Stadtkirche Bayreuth, 24.4.2022
Auch Nestor musste nichts und niemandem etwas beweisen, als er mit Altersweiseheit, Beredsamkeit, Redlichkeit und heiterer Lebenskunst die Griechen vor Troja beriet. Viktor Lukas steht im 91. Lebensjahr, womit er den alten Griechen um einige Jahre überflügelt haben dürfte – wer ihn in seinem Orgelkonzert in der Bayreuther Stadtkirche erlebte, in der er selbst vor 62 Jahren seinen Dienst als Kirchenmusiker antrat, bevor er 1975 dort ausschied und doch Bayreuth stets erhalten blieb, wer ihn nun am Spieltisch erlebt, bekommt mit, was das ist: Ehrlichkeit, Unprätentiosität, souveräne Meisterschaft.
Lukas wurde auch als Kölner Orgelprofessor und als Verfasser des gar nicht genug zu lobenden Orgelmusikführers des Reclam-Verlags bekannt. Sein Programm ist sowohl didaktischer wie spielerischer Natur; die Freiheit, die er sich und den Zuschauern zeigt, besteht in der Form, die er mit Phantasie erfüllt – die Orgelreise geht an diesem Abend chronologisch durch die Jahrhunderte: vom 17. (Buxtehude), 18. (Bach, de Grigny, Marchand), 19. (Franck) ins 20. (Duruflé). Es geht auch durch die Stilepochen: vom norddeutschen Barock über den Großmeister Bach in das französische Barock zur Romantik und einem Ausflug in die sogenannte gemäßigte Moderne, wobei die Vorliebe für die Orgelnation Frankreich zuletzt ein wenig mehr ist als eine Reverenz an die französische Präsidentenwahl, die während des Konzerts ihr Ende findet. Mit vier von sechs Komponisten haben die Franzosen ein (schönes) Übergewicht, das durch die Beteiligung Maurice Duruflés, bei dem der Organist des Abends noch studierte, und schließlich César Francks und des gewaltigen Finales des 3. a-Moll-Chorals gekrönt wird.
Gewaltig, aber nicht monströs. Die Gefahr auch bei den beiden Instrumenten der Stadtkirche besteht ja auch darin, die dynamischen Möglichkeiten allzu sehr auszukosten. Zu Stahlgewittern kommt es am Abend allein im subtilen Mezzoforte-Bereich, wie überhaupt der Ton auch in dem Sinne bei diesem Meister der Orgel die Musik macht, als dass die zeitaufwenidige und fundamentale Registrierung, also die Instrumentation, äußerst genau – und äußerst farbig ist, d.h: von Stück zu Stück und von Satz zu Satz beglückend variiert. Es macht einfach Freude, den Stücken zu lauschen, den köstlichen Bizarrerien wie den majestätischen Klangkuppeln, den pastosen wie den fiepsigen Tönen, die in Louis Marchands C-Dur-Dialogue im besten Sinne interessant ins Ohr dringen. Schon die No. 1 des Programms, Buxtehudes D-Dur-Präludium WV 139, entbindet, als Suite von fünf kleinen Einzelstücken, eine Folge von instrumentalen Impromptus, die nach dem Prinzip der Steigerung, über gelind stählerne zu größeren, gläsernen und doch nicht gläsernen Teilen schließlich ins angemessene Fortissimo geführt werden. Schlicht magisch wie mehrdeutig ist schon die Aura, in der es für den Hörer unmöglich ist, die Herkunft einzelner Stimmen zu orten – die Musik wird unter den Händen von Viktor Lukas zu einem zauberischen Klang- und Hallraum.
Schön auch, dass die Werke nicht „spektakulär“ sein müssen, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Nicolas de Grigny könnte um 1700 sein Récit de Tiece en taille für die Kommunion während der Messe geschrieben haben, die Musik schreitet ruhig voran – und bildet den schönsten Kontrast zu Louis Marchands Dialogue, deren fanfarenhafte Introduktion begreiflich macht, dass er für einen königlichen Aufzug hätte eingesetzt werden können. Viktor Lukas erläutert all diese Zusammenhänge, kleinen Biographien und musikhistorischen Einordnungen in seiner Conference; er tut es nicht ausschweifend, sondern konzis genug, um noch Platz für geschichtliche und persönliche Anekdoten zu lassen, die, jede für sich, zur Authentizität des Abends beitragen. Bach habe, sagt er, die Fuge in Präludium und Fuge G-Dur- BWV 541 „aus Spaß an der Freude“ geschrieben. „Aus Spaß an der Freude“ – dies scheint das Motto des gesamten Abends zu sein, an dem die Lust an der Musik durch die Ernsthaftigkeit der Stücke und der Interpretationen nur bestätigt, nicht gebrochen wird, oder anders: Die Entspanntheit, mit der Viktor Lukas auch die technisch anspruchsvollsten Stücke in ein Gebiet führt, in der die Zuhörer schlicht und einfach in der Musik zuhause sein können, ist bewundernswert: selbst noch bei der Zugabe, dem transkribierten Eingangssatz von Bachs Actus tragicus, der Sonatina der Kantate BWV 106, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, einem Satz von großer Schlichtheit – und Eindringlichkeit. Eine privat motivierte und doch objektiv ergreifende, doch nicht brutal überwältigende, lichte Trauermusik.
Wie gesagt: Viktor Lukas muss nichts mehr beweisen, aber er hat noch einiges zu sagen.
Frank Piontek, 25.4.2022
Foto: ©Musica Bayreuth