Steingraeber, 14.8.2020
Gehörte Arturo Benedetti Michelangeli zu den „großen Pianisten“? Wer Joachim Kaisers klassisches Kompendium in die Hand nimmt, bekommt genau diese Information zugesteckt – mit der vergleichsweise leichten Andeutung, dass der Ästhetizismus des Pianisten sich, etwa in seinen Beethoven-Interpretationen, gelegentlich ins Marmorhafte verfestigen konnte.
Cord Garben, bis 1993 Aufnahmeleiter beim Hauslabel des Musikers, also der Deutschen Grammophon, den Bayreuthern bekannt als Spieler des Klavier-Ring, hat bereits 2002 seine Erinnerungen an den Pianisten veröffentlicht. Nun, im 100. Jahr des Geburtstages des seltsamen Mannes aus Brescia, stellte er in der Klavierbaufirma Steingraeber sein neues Opus vor, in dem es um andere, künstlerisch und interpretatorisch motivierte Reminiszenzen und Deutungen geht. Der Titel sagt schon alles – und mag nur den überraschen, der nicht mit Benedetti Michelangelis Ästhetik vertraut ist: „Die kühle Kunst der Perfektion.“ Garben, als Pianist und Pädagoge ein Kenner auch der Kunst der Interpretation, betreibt hier einen Biographismus der höheren Art, indem er die eigentümlich perfektionistischen Interpretationen des Musikers mit dessen Psyche ineins setzt. Denn klingen die Aufnahmen nicht wie die Produkte eines Mannes, der seinen Autismus und seinen extrem gestörten wie empfindlichen Charakter in seiner kühlen Spiel-Art im hegelschen Sinne aufhob, also zugleich vergessen machen wollte und bewahrte?
Der Fall ABM aber wäre uninteressant, hätte der Italiener nicht gelegentlich (freilich allein nach Meinungen, die subjektiv sein müssen) die vollkommensten Einspielungen bestimmter Werke vorgelegt. Garben vermutet, dass ihm Brahms‘ Paganini-Variationen vielleicht deshalb so gut in den Fingern „lagen“, weil er im Komponisten einen verwandten Künstler entdeckte, der sich vor Wagners Ausdrucksgewalt in das Korsett der (freilich individuell erweiterten) Klassik flüchtete. Kein Wunder, so der Interpret des Interpreten, dass Benedetti mit seiner Kunst der brillant polierten Oberfläche der Schumann des romantischen „Carnaval“, der späte Schubert und viele andere Werke fremd bleiben mussten – was eigenmächtige, effektsteigernde Eingriffe in die Vortragsbezeichnungen etwa der Chopin-Mazurka op.33/4 und überwältigende, nicht immer falsche Lesarten in Form von betörenden Phrasenverschiebungen, etwa in Mozarts D-Moll-Klavierkonzert, nicht ausschloss. Garben aber sieht den Pianisten, mit dem er jahrelang zusammenarbeitete, eher kritisch: weniger als Debussy-Interpret (bei Debussy muss wesentlich weniger interpretiert werden als bei Beethoven) als bei jenen Komponisten, die ABM wesensfremd waren. Dass er ein sehr schmales Repertoire hatte, passt zum Bild eines verschlossenen Mannes, der sich nur auf wenige Stücke einliess.
Doch seltsam: ABMs Referenzeinspielung der kleinen, schlichten C-Dur-Sonate von Baldassare Galuppi gehört zu seinen schönsten, und dies nicht, weil er sich getreu an die „herkömmliche“ Spielweise der Alberti-Bässe hielt, sondern weil er sie seinem kühlen quasi-staccato-Stil auslieferte und darüber die betörend einfache Melodie legte. Was richtig, was falsch ist: man könnte oft ins Grübeln geraten, wo die Wirkung eines Stücks nicht identisch sein kann mit der Absicht des Autors. Garben plädiert stets für die Autoren: fair gegenüber ABMs Vorzügen, skeptisch gegenüber seinen einschichtig perfektionistischen Attitüden.
Hört man dem Kenner der Klaviergrößen, der -kleinen und der aktuellen Szene zu, wird man kaum überrascht sein, zu hören, dass heutzutage populäre und bejubelte Podiumstars alles Mögliche machen, nur nicht eines: das spielen, was in den Noten steht. Sein Plädoyer gegen den Manierismus und die pure Brillanz hat mit ABM ein lehrreiches Beispiel gefunden, das, so betrachtet, kein historisches Phänomen ist – auch wenn man nicht sämtliche Pianisten, die unter 45-50 Jahren jung sind, für unfähig hält. Was „groß“ ist, entscheidet vielleicht doch die Nachwelt – zu der der urteilssichere und informierte Benedetti-Kenner zweifellos gehört.
Die kühle Kunst der Perfektion erschien im Verlag Florian Noetzel und kostet 35 Euro.
14.8.2020