Ballett-Uraufführung: 26.1. 2013, besuchte Vorstellung: 17.7. 2013.
Es ist nicht das erste – und wird nicht das letzte Wagnerballett sein. Dem Balletomanen fällt beispielsweise „Riccardo W.“, ein – eine Arbeit des Choreographen Valery Panov und des Dramaturgen Karl Dietrich Gräwe, die 1983 in der Stamm- und Jugendoper des Opernfreundes, der Deutschen Oper Berlin, uraufgeführt wurde. Schon damals begegnete man Richard, Ludwig und Cosima, Minna und Mathilde – und symbolischen Frauengestalten, die dem kreativen Künstler begegnen. Auch damals wurde nicht allein Musik von Wagner in den „score“ integriert; auch – wie pikant! – Musik Meyerbeers, Mendelssohns und Offenbachs wurde neben Werken von Liszt und Berlioz gleichsam vertanzt. Eine Mischung aus Biographie und symbolüberhöhter Parabel: so stellte sich im Jubiläumsjahr 1883 das Wagnerballett dar.
Das Theater Regensburg hat zum aktuellen Jubeljahr ein Ballett auf die Bühne gebracht, das mit dem Berliner Ballett einige Gemeinsamkeiten besitzt – den biographischen Anteil – und sehr viel Verschiedenes aufweist, denn der gesamte zweite Teil dieser kurzweiligen Choreographie des Hauschoreographen Yuki Mori ist ein symbolistisches Werk aus einem Guß. Es gilt, was Peter Wapnewski seinerzeit über „Riccardo W.“ in der „Zeit“ veröffentlichte: „Der Tanz als sinnliche Form einer Idee, der Gestus als bewegte Materialisierung des Gedanklichen, die Pantomime als körperhafter Ausdruck einer Emotion: das könnte diesem anderen Wagner sehr wohl gerecht werden. Dem, der hinter seinen fundierenden Redseligkeiten nur das große Stummsein verstecken will; der sich am 21. Januar 1883 das erstaunliche Wort notiert: ‚Das viele Reden und Hören verhindert das Sehen.’“ Und also tanzen die jungen, exzellenten Tänzer des Ensembles einen Wagner, der uns vielleicht nicht wirklich tief bewegt – wobei die Ausnahme die Regel bestätigt -, aber immer interessiert. Funktioniert die Koppelung großer, bedeutender Musik mit neu erfundenen Tanzschritten? Durchaus. Hier erklingt nicht allein Wagner, sondern auch – selten in harten Brüchen (wie nach dem brutal abgeschnittenen „Rheingold“-Vorspiel) – der erste Satz aus Alexander von Zemlinskys frühmodern flirrender Sinfonietta und die beiden ersten Sätze der B-Dur-Symphonie des fortgeschrittenen Wagnerianers Ernest Chaussons: eine Musik der Begeisterung. Peter Wapnewski kann beruhigt werden, wenn er schreibt: „wo man den Griff zu großer Partitur wagte, besteht allemal die Gefahr wechselseitiger Aufhebung, ja Dementierung der beiden Künste.“ Die Gefahr wurde in Regensburg gebannt, weil mit „Nummern“ wie „Isoldes Liebestod“, der vom Klaviersatz ins Orchester glitt, eine intelligente, tiefsinnige, letzten Endes unaussprechliche Dramaturgie ins Tanzwerk gesetzt wurde. Wenn sich Wagner von Mathilde verabschiedet, dann verabschiedet sich zugleich Wagner von seiner jungfräulich weißgekleideten Kunst- und Kunsttraumfigur Isolde – die wiederum nicht allein Isolde, sondern jegliche wagnersche Operntraum- und Lebensfrau bedeuten könnte. Wenn sich Mathilde von Richard verabschiedet, dann trennt sie sich zugleich von seinem Dämon, von seiner künstlerischen „Mission“ (wie am Abend ein dem Ballett eher fern stehende Frau ganz richtig bemerkte). Voilà: mit einem derartig zarten Arrangement wird mehr erklärt als durch viele Worte (schon in Panovs Ballett gehörte die Minna-Mathilde-Bülow-Cosima-Konstellation zu den gelungensten Sequenzen). Ljuba Avvakumova und Harumi Takeuchi tanzen die beiden wichtigen „Visionen“, die an diesem Abend vieles sind: vor allem aber überpersönliche, betont ästhetisch agierende Figuren, die Wagner lebenslang begleitet haben.
In diesen Augenblicken wachsen die Tänzer über das Korsett hinaus, das ihnen der Durchgang durch einige charakteristische Lebensstationen auferlegt. Es macht im übrigen immer Freude auf die Truppe zu schauen, auf die typischen Bewegungen des nervösen Richard, der von Claudio Constantino als Gefangener seiner Sehnsüchte gestisch gezähmt wird. Es macht ungeheure Freude, Mathilde als euphorischen Schmetterling in eine Szene einbrechen zu sehen, die unversehens fröhlich und erotisch zu glühen beginnt; man wird sich die rothaarige, leuchtende Ina Brütting merken.
Es ist schlicht packend, wenn Caroline Fabre als Cosima Richards Vergangenheit – die Vergangenheit eines von seinen Gläubigern gehetzten Menschen – buchstäblich vom Tisch wischt; in der Geste und in ihren weit ausladenden Schritten überrascht sie uns mit einer weiblich-männlichen Dominanz, die verstehbar macht, wieso Wagner der jungen Frau zunächst verfallen war. Es scheint, als seien ihre Drehungen noch begeisterter als die der anderen Figuren.
Die Drehung: sie ist das Hauptmerkmal in dieser Arbeit Yuki Moris, die noch letzte Erinnerungen an den klassischen Tanz enthält – so wie Wagners Neues Musikdrama sich von der „Oper“ emanzipierte, ohne sie ganz vergessen machen zu können. Bei aller Symbol- und latenten Rätselhaftigkeit der Gesten und Schritte, die der Modern Dance dem Choreographen zur Verfügung stellt, werden indes die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren stets klar gemacht. Betörend, wie Cosima schon zu Beginn vor Richard auf die Knie geht – und bewegend, wie Minna vor der beginnenden Zweiheit von Richard und Mathilde ins Dunkel zurückweicht. Andrea Vallescar spielt Minna – und wie sie sie spielt! Als kraftvolle und gedemütigte Gattin eines Genies, das nicht Anderes kann als stets Grenzen zu überschreiten.
Wagner war ein Gefangener seiner Sehnsüchte, der aus der ewigen Unbefriedigung die Kraft für seine unfassbaren Schöpfungen zog. Der gesamte zweite Teil des Abends heißt denn auch schlicht „Sehnsucht!“ Nun hört man lediglich das Vorspiel zu „Parsifal“ und den „Karfreitagszauber“. Männer und Frauen, Gruppen und namenlose Individuen rücken an die Stelle der konkreten, durch den Tanz allerdings schon stark verfremdeten historischen Figuren. „Durch den Geist von Richard Wagner ziehen die Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen, die sein Leben und Schaffen bestimmt haben. Seine Gedanken nehmen Gestalt an und werden zu Männer und Frauen, Helden und Walküren, Paaren und Einsamen, die die Erinnerung ihrer eigenen Geschichten träumen.“ Nein, man muss nicht wirklich an Walküren denken; es ist gut so, weil es von allem abstrahiert, was an Wagners Werken konkret ist. Im hellen Blau der schlicht schönen Sommerkostüme Thomas Kaisers entwickelt sich ein Lebensdrama, das seinen Rhythmus scheinbar gegen die Langsamkeit der Musik setzt – bis man merkt, dass es entweder taktgenau auf die Akzente der Musik hin organisiert wurde oder jene Spannungen in die Geste bringt, die die Musik in ihrem Innersten enthält.
So etwas nennt man wohl dialektisch – alles andere wäre eine Verdoppelung von Musik und Tanzschritt gewesen, in dem die Wagnermusik, die vom Philharmonischen Orchester Regensburg unter Philip van Buren meist sicher gebracht wurde, nur noch als Filmmusik gebraucht worden wäre. So aber gewann sie eine Eigenständigkeit gegenüber der Szene, die ihre Geschichte aus dem subtilen Geist der Musik schöpfte: die Euphorie und die Trauer, die geheime Melancholie und die Hysterie. Eben ganz in Wagners dramatischem Geist.
Frank Piontek
Fotos: Ralf Mohr