Um das Fazit vorwegzunehmen: Diese hochkarätige, vor kurzem bei dem Label ORFEO erschienene Live-Aufnahme aus dem Theater Magdeburg von Eugen Engelseinziger Oper Grete Minde ist absolut empfehlenswert. Hier haben wir es mit einer echten Rarität zu tun, einem absoluten Prachtstück in Sachen Oper, das die Anschaffung unbedingt lohnt! Aufgezeichnet wurde eine Aufführung vom 13.2.2022.
Bei der Grete Minde handelt es sich um ein phantastisches, äußerst effektvolles und eindringliches Werk, das einen ganz in seinen Bann zieht. Hier hat der deutsch-jüdische Komponist Engel, der seinen Lebensunterhalt als Kaufmann verdiente und nur hobbymäßig komponierte, ganz hervorragende Arbeit geleistet! Die Aussage des Dirigenten Bruno Walter in einem Brief an den Komponisten, dass die Grete Minde keine Erfindung persönlicher Prägung, keine Originalität in Einfall oder Führung aufweise, wurde von dem begabten Tonsetzer auf höchst beeindruckende Art und Weise Lügen gestraft. Er hat eine geradezu atemberaubende, berauschende, chromatisch dahinfließende sowie an Wagner, Strauss, Humperdinck und Schreker gemahnende Musik geschrieben, die stark im Fin de Siécle verwurzelt ist. Die Partitur weist eine erweiterte Tonalität auf und ist von erhabenem Schönklang geprägt. Und bei Anna Skryleva, der Generalmusikdirektorin des Magdeburger Theaters, ist sie in besten Händen. Zusammen mit der gut gelaunten Magdeburgischen Philharmonie erzeugt sie einen groß angelegten, ausgewogenen, spannungsgeladenen und differenzierten spätromantischen Klangteppich, der sich obendrein durch vielfältige Nuancen und eine reiche Farbpalette auszeichnet. Bei Frau Skryleva erhalten noch die im zartesten Pianissimo dargebotenen Passagen großes Gewicht. Und bei den lautstarken und dramatischen Stellen legt sie sich ebenfalls mächtig ins Zeug. Das geht unter die Haut.
Eugen Engel erblickte am 19.9.1875 in Widminnen das Licht der Welt und wurde am 26.3.1943 im deutschen Vernichtungslager Sobibor ermordet, wahrscheinlich vergast. An der Grete Minde komponierte er bis 1933. Das Libretto verfasste Hans Bodenstedt, der nach 1933 ein Verlagsleiter NS-konformer Zeitschriften war. Als Vorlage diente ihm die im Jahre 1880 erschienene, gleichnamige Novelle von Theodor Fontane. Bodenstedt hielt sich für die Oper eng an Fontanes Vorlage, wobei er einige Textstellen sogar wörtlich übernahm. Die Handlung spielt in den Jahren 1614 bis 1617 und thematisiert den historischen Brand von Tangermünde. In dieser von einer angespannten politischen Situation geprägten Stadt lebt Grete Minde, deren Mutter ihre Geburt nicht überlebt hat, bei ihrem ungeliebten Halbbruder Gerdt und dessen Frau Trud. Die Situation zwischen Grete und ihren Verwandten ist gespannt und eskaliert, als Grete entgegen der Anweisung ihrer Schwägerin deren kleines Kind nicht ordnungsgemäß beaufsichtigt. Zusammen mit ihrem Verlobten Valtin schließt sie sich einer Puppenspielertruppe an und verlässt Tangermünde. Die beiden bekommen ein Kind. Drei Jahre später erliegt Valtin im Gasthof zu Arendsee, in dem die Komödianten gerade auftreten, einer tödlichen Krankheit. Kurz bevor er das Zeitliche segnet, nimmt er Grete das Versprechen ab, nach seinem Tod wieder nach Tangermünde zurückzukehren, damit für das Kind gesorgt ist. Grete kommt seinem letzten Wunsch nach. Als sie in Tangermünde von ihrem Bruder ihr Erbteil einfordert, wird ihr dieses von Gerdt verweigert. Grete kann ihr Recht nicht durchsetzen. Auch der Bürgermeister vermag ihr nicht zu helfen. Ein Vermittlungsversuch von Trud verläuft im Sande. Aus Zorn darüber steckt Grete Tangermünde in Brand und findet zusammen mit ihrem Kind auf dem lichterloh brennenden Kirchturm den Tod.
Es ist eine äußerst dramatische Handlung, die hier erzählt wird. So wie der Brand von Tangermünde im Jahre 1617 wirklich stattgefunden hat, ist auch die Figur der Grete Minde historisch verbürgt. Einige die Zeit überdauerte Gerichtsakten geben von ihrer Tat Aufschluss. Die historische Grete, die damals zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, erscheint um einiges ambivalenter als die Grete in der Oper. Es ist kein Wunder, dass dieser Stoff das Interesse von Fontane erregte, der seine Geschichte in der für ihn typischen lakonischen Art enden ließ. Bei Engel und Bodenstedt geht es ungleich dramatischer zu. Dieses Geschehen erscheint auch heute noch in hohem Maße bühnenwirksam und es ist einem gütigen Geschick zu danken, dass die Partitur der Grete Minde den Schrecken des Nazi-Terrors überdauert hat. Im Februar 1941 gelang es Engels Tochter Eva zusammen mit ihrer Familie in die USA zu emigrieren. In einem von ihr mitgeführten Koffer befanden sich einige Kompositionen ihres Vaters, unter ihnen die Partitur und ein Klavierauszug der Grete Minde. Als die Kinder von Eva nach ihrem Tod 2006 den Koffer öffneten, fanden sie beides. Es ist dem Projekt der Stolpersteine zu verdanken, dass diese Noten den Weg zurück nach Deutschland fanden und dort das Interesse der Magdeburger Generalmusikdirektorin Anna Skryleva erregten. Sie begeisterte sich sofort für die Oper und brachte diese im Jahr 2022, neunzig Jahre nach ihrer Entstehung, am Magdeburger Theater endlich zur Uraufführung. Diese gestaltete sich zu einem Triumph für das Theater und das Werk. Die Kritiken waren durch die Bank positiv. Es ist Frau Skryleva hoch anzurechnen, dass sie die Grete Minde derart erfolgreich wieder zur Diskussion stellte.
Größtenteils überzeugend sind auch die gesanglichen Leistungen. In der Titelrolle der Grete Minde brilliert mit bestens italienisch geschultem, ebenmäßig geführtem, höhensicherem und über lang gesponnene Bögen verfügendem jugendlich dramatischem Sopran Raffaela Lintl. In nichts nach steht ihr Kristi Anna Isene, die mit ebenfalls hervorragend fokussierter, imposanter Tongebung eine hervorragende Trud singt. Ebenfalls großartig schneidet der über üppiges, trefflich fundiertes Tenormaterial verfügende Benjamin Lee in der Partie des Hanswursts ab. Nicht zu gefallen vermag dagegen sein sehr flach und maskig klingender Tenorkollege Zoltán Nyári als Valtin. Mit geradlinigem Bariton singt Johannes Wollrab den Puppenspieler. Von Marko Pantelics kräftig singendem Gerdt und dem sonor klingenden alten Gigas von Paul Sketris hätte man gerne mehr gehört. Solide gibt Jadwiga Postrozna die Emrentz Zemitz. Mit tadellosem Sopran wertet Na’ama Shulman die kleine Rolle der Zenobia auf. Nichts auszusetzen gibt es an Karina Repova (Domina, Mother Superior), Johannes Stermann (Peter Guntz) und Frank Heinrich (Wirt). Gut schneidet der Opernchor des Theaters Magdeburg ab.
Wem diese CD gefällt, hat im Herbst die Gelegenheit, die Oper auch live zu erleben. Da wird am Theater Magdeburg die Grete Minde dankenswerterweise wiederaufgenommen. Dieses absolute Juwel hochrangiger Kompositionskunst, das viel zu lange in der Versenkung schlummerte, sollte sich kein Opernfreund entgehen lassen. Sowohl die Fahrt nach Magdeburg als auch der Kauf der CD seien jedem Opernliebhaber dringendst ans Herz gelegt! Und an die Opernhäuser ergeht hiermit der Aufruf, das Werk zeitnah nachzuspielen.
Ludwig Steinbach, 14. Mai 2023
CD: „Grete Minde“
Eugen Engel
Theater Magdeburg
Musikalische Leitung: Anna Skryleva
ORFEO
Best.Nr.: C260352
2CDs