Premiere: Bayreuth 1967, Prag 8.6.2017, besuchte Aufführung: 9.2.2018.
Ein Gang ins Opernmuseum
Weiter könnten die Aufführungen nicht voneinander entfernt sein. Hatte man am Vorabend mit der „Zauberflöte“ im Ständetheater eine mit 1000 Einfällen gespickte, oft in goldenes Licht getauchte, mit zusätzlichem Personal versehene und deutungsstarke wie -offene Inszenierung gesehen, die vor drei Jahren ihre Premiere erlebte, begab man sich am folgenden Tag ins Opernmuseum. „Lohengrin“, eine Bayreuther Arbeit aus dem Jahre 1967, revitalisiert von der Tochter des damaligen Regisseurs, ging vor allem mit Statik, Graulicht und der Abwesenheit jeglicher aktueller Deutung über die Bühne des Prager Nationaltheaters. Übrigens gab es damals schon Kritiker, die den Abend inszenatorisch bedeutungslos – und andere, die ihn in Maßen gelungen fanden, weil er angeblich (aber auch dies waren nur Meinungen) zwischen Wielands Arbeiten und irgendeiner vorsichtigen Opernzukunft vermittelte. Wer sich heute die Bilder von Wielands silberblauer Bayreuther Inszenierung anschaut oder sich an eine Aufführung wie die der Deutschen Oper Berlin erinnert (es war der erste „Lohengrin“, den ich Anfang der 80er Jahre gesehen habe), vermag den Unterschied zu Wagner, Wolfgangs Version sofort zu entdecken, ohne für oder gegen Wieland und Wolfgang Partei zu ergreifen. Geschichte ist’s eh.
Der Fall ist bekannt: 2017 erlebte Wolfgang Wagners Bayreuther „Lohengrin“ von Anno 1967 seine Prager Premiere – eine höchst sonderbare Premiere, denn Wolfgang Wagners Inszenierung hat weder Deutungsgeschichte geschrieben noch wirkt sie irgendwie vital. Im Gegenteil: Wer sich diese Aufführung anschaut, begreift sofort, wieso es nur kurz nach der 1967er-Premiere zu ersten radikalen Anti-Wieland- und Anti-Wolfgang-Wagner-Bewegungen kam, ja kommen musste. Insofern ist die merkwürdig untote Inszenierung durchaus spannend. Nein, langweilen musste man sich nicht unbedingt, auch wenn manch Zuschauer in der ersten Pause – nach dem statischsten aller Akte – sagte, dass das Ganze total langweilig sei und während des zweiten Akts (der dank Ortrud und Telramund vergleichsweise lebendig war) einschlief. Kein Widerspruch, Euer Ehren, aber als Reise mit der Zeitmaschine war’s durchaus amüsant – und die Tatsache, dass ein vier Meter langer rascher Gang nach vorn ein szenisches Ereignis und das gemeinsame Beten und Niederknien von Elsa und ihren Damen absolut aufregend sein kann, wenn vorher und nachher quasi nichts passiert, ist ein interessanter Beleg für die theatralische Relativitätstheorie. Diese (freilich ganz wenigen) Überraschungs-Stellen wirken tatsächlich gut – und die Erscheinung des Schwans als leuchtende Silhouette, nach einer flimmernden Graulichtfläche, ist vielleicht besser als die Interpretation des mythischen Tiers als banales nichtmythisches Wesen. Dem Werk haftet, trotz neuester Interpretationen, immer noch echt Märchenhaftes an. Echte Schwäne kann man im Übrigen zuhauf an der Moldau sehen und füttern – und wer die Nerudova emporläuft, kommt am Haus zum Schwan vorbei; Tradition ist eben in Prag nicht alles, aber viel. Und wann macht man schon einmal Reisen mit der Zeitmaschine?
Wenn der Chor, der mir im zweiten Akt klanglich am besten gefiel, nur nicht immer so unbeteiligt herumstehen und -schauen würde! Wenn das von Wagner, Wolfgang notorisch bekannte Schreiten nicht nur so peinlich gestelzt wäre! Man würde sogar die Finsternis des 2. Akts und das denkbar uncharmante Licht der Außenakte ertragen, würde klar werden, dass die einstens geäußerte These vom Widerspruch der göttlichen mit der irdischen Welt mehr ist als ein dürrer Zweig, an dem Wagner, Wolfgang seine kunstgewerblichen Dekorationen (das pseudoromanische Geschlinge des 1., die falschen Öffnungen des 2. und der Baldachin des 3. Akts) und einschichtigen Lichter aufhing. Schon deshalb ist es unbegreiflich, wieso die als Aktionistin des Regietheaters bekannte Wagner, Katharina die Arbeit ihres Vaters aus den alten Regiebüchern und -dokumenten holte. Wer freilich noch vor ein paar Jahren die szenisch höchst einfache „Nabucco“-Inszenierung der Staatsoper besichtigen konnte, ahnt, dass die Akzeptanz derartig alter Regieansätze an der Moldau nicht so ungewöhnlich wirkt wie es im sog. Westen der Fall wäre. Insofern ist dieses „Lohengrin“-Revival ein Überhang zwischen dem Operntheater von Gestern und Heute. Immerhin freuen sich die angereisten Wagnerverbände, die es eher „konservativ“ als neu mögen – denn man hörte auch die Meinung, dass die Statik dem Drama nicht schaden würde. Das tat sie in der Tat nicht – sie hatte nur keine Bedeutung für eine Interpretation, die über das unmittelbar Sichtbare hinausging.
Wagner selbst, der fünfmal in Prag zu Gast war, und der die Stadt liebte, hat seinen „Lohengrin“ nie in Prag dirigiert. Vielleicht hätte er die Extra-Trompeten woanders hingestellt, denn wer das Glück hat, gleich rechts in der ersten Parkettreihe zu sitzen, bekommt die Macht der schallenden Bläser gewaltig zu spüren. Es wäre klüger gewesen, sie, in Bruch der Wagner, Wolfgang-Tradition auf die Bühne zu stellen. Constantin Trinks hat gut zu tun, das Orchester und insbesondere die Blechbläser zusammenzuhalten. Ansonsten bietet man einen lyrischen wie heroischen, holzbläserzarten und herzhaft blechgepanzerten „Lohengrin“, der dem Gestus der Inszenierung, die das vorsichtige Pathos nicht scheut, angemessen ist – denn aufs Schwertrütteln mochte auch Wagner, Wolfgang bei dem Lobpreis des „deutschen Landes“ nicht verzichten. Andererseits kennt und liebt auch das tschechische Volk seine nationalen Mythen; ein Blick in die wunderschönen Lünetten und Gemälde des Foyers gibt uns Auskunft über das damalige, im Konzert der national beseelten Völker völlig verständliche Konzept historistischer Mythenbildungen (insofern wäre es interessant, im Nationaltheater nach einem „Lohengrin“ einmal Smetanas geniale „Libussa“ zu erleben). Kein Punktabzug also beim Schwerterschütteln des deutschen Königs und seiner Männer – zumal David Steffens einen glänzenden König singt. Mag sein, dass er, wenn er sein „Material“ weiter so kräftig bearbeitet wie an diesem Abend, in baldiger Zukunft auf dem letzten Loch pfeifen wird – in der besuchten Vorstellung überzeugte er durch Stimmschönheit, Profundität und klarster Artikulation. Gleiches gilt für die Elsa der Alexandra Lubchansky. Von Geburt Russin, verstand man jedes Wort aus dem Mund dieser hervorragenden Sängerin; nur ein leichtes Schollern im höheren Sopranbereich lässt ahnen, dass auch diese Künstlerin mit ihrem Material vorsichtiger umgehen sollte. Ansonsten war sie eine vollkommene, anrührend timbrierende Elsa – also das Gegenteil der Ortrud, über deren Sängernamen ich an dieser Stelle den gnädigen Mantel des Schweigens decke. Martin Bártas Telramund kam kräftig und ausdrucksvoll daher; wollte man überkritisch sein, müsste man bemerken, dass auch diese Stimme feingeschliffener klingen könnte, aber nicht jeder Telramund kann wie Dietrich Fischer-Dieskau klingen. Sehr gut der Heerrufer des Jiří Brückler, der am Vorabend noch den Papageno gab. Auch Wagner, Richard hätte über diese Rollenfolge gelächelt… und sich über die markante Stimme gefreut, die ich, falls die Aufzählung von Sängernamen einer Olympiade gleichen sollte, knapp unter der des David Steffens ansiedeln würde.
Und der Titelheld, deren Name jeder kennt, und der doch im Schlussakt so überraschend seine Art preisgibt? Nur die Tatsache, dass er sein wunderbares Material vorsichtig, doch deutlich genug, einsetzte, wies darauf hin, dass er als indisponiert angekündigt wurde. Es machte einfach Freude, Aleš Briscein bei der Arbeit zuzuhören: ein lyrischer Tenor von hohen Graden, der die expressiven Möglichkeiten seiner Stimme voll ausschöpft, äußerlich tatsächlich – aber das kann auch die Maske mit den klassischen Neubayreuther Perücken machen – von fern an Sándor Kónya, den ersten „Lohengrin“ von 1967, erinnert. Vorbildlich seine Artikulation, samtweich und doch nicht quallig sein Ton, edel sein Timbre.
Nein, der Abend war weder langweilig noch – abgesehen von der Sängerin der Ortrud – musikalisch schlecht. Er war nur anders, insofern kaum an irgend einer aktuellen „Lohengrin“-Inszenierung zu messen. Der Zuschauer vermag nur zu sehen, woher die moderne Opernregie herkommt: aus der Reaktion auf das Schaffen der einige Jahre die Wagner-Ästhetik dominierenden Gebrüder Wagner. Um mit den leicht abgewandelten Worten des aus Prag stammenden Großkritikers Eduard Hanslick über die „Meistersinger“ zu schließen: „Als Regel gedacht, würden sie das Ende der Regie bedeuten, während sie als Spezialitäten immerhin bedeutender und nachhaltiger anregen als ein Dutzend Alltagsinszenierungen.“
Frank Piontek, 11.2.2018
Fotos ©Patrik Borecký, Hana Smejkalová
(Die Fotos zeigen bis auf Aleš Briscein nicht die Sänger der besuchten Aufführung).