Prag: „Libuše“, Bedřich Smetana

© Hana Šmejkalová / Národni divadlo

Das Erste, was man hört, ist die Fanfare. Die Fanfare, mit der die Oper beginnt, die Orchestermusiker intonieren sie schon fleißig beim Einstimmen. Es passt, denn Bedrich Smetana hat eines einer Opern-Hauptwerke – aber welche seiner acht genialen Opern ist kein Hauptwerk?? – nicht mit dem traditionellen Gattungsnamen versehen, sondern als „Festliches Singspiel“ bezeichnet und konzipiert. Da kommen dem Besucher aus Deutschland Erinnerungen hoch: 1977 – damals lief am Ort Die Hochzeit des Figaro – konnte er noch den roten Sowjetstern am Bühnenportal sehen. Heute prangt dort wieder der stolze Böhmische Löwe. Nach der Fanfare aber wird nicht allein das Portal des Nationaltheaters, auch die Wenzelskrone, also die Krönung der heutigen Präsidentenloge, ins rechte Licht gesetzt. Es hat schon seinen Sinn, denn wie selten in der Geschichte der Oper (ja: Libuše ist bei aller Feierstimmung eine vollgültige Oper) verbrüderten sich im Fall des tschechischen Staatsmusiktheaters Kunst und Politik, Musik und Nationalstolz, Dramaturgie und Staatsgründung. Paul Burians Inszenierung, die seit 2018 im Repertoire des Hauses ist, in dem die Oper sogar zweimal ur- bzw. erstaufgeführt wurde – das erste Mal bei der Eröffnung des ersten Baus im Jahre 1881, das zweite Mal bei der Wiedereröffnung des zwischenzeitlich abgebrannten Hauses im Jahre 1883 –, diese Inszenierung zitiert, nachdem sie drei kurze Stunden lang, nicht allein auf kostümlicher Ebene (Kateřina Stefková entwarf zwischen vager Vorzeit und Abstraktion changierende Kleider, von denen Wagner bei seinem 1876er-Ring geträumt haben mochte), das mythisch-legendenhafte Element des Stoffs betonte, am Ende in einem schier bezwingenden Bild die 1868 erfolgte und bildlich überlieferte, mit dem Kapellmeister Smetana selbst über die Bühne gegangene Grundsteinlegung des Hauses, das stets mehr war als ein Opernhaus, weil es, wie es auf der Homepage des Národni divadlo ganz richtig heißt, „die spätere Gründung der Tschechoslowakischen Republik selbst vorwegnahm“.

© Hana Šmejkalová / Národni divadlo

Národ sobe („Die Nation / das Land / das Volk für sich“), der Satz steht nicht allein auf dem Grundstein, auch an der Decke des Zuschauersaals. Für Smetana selbst war Libuše folgerichtig kein Repertoirestück, sondern eine Oper für nationale festliche Ereignisse – dabei ist es bis heute im Grunde geblieben, auch wenn die Oper im Prager Nationaltheater gelegentlich außerhalb dieser Tage gespielt wird. An einem 1. Januar hat sie natürlich eine ganz besonders starke Wirkung.

Das eigentliche Wunder der Libuše aber besteht darin, dass der durchaus einseitige, immer wieder zu hohem Pathos neigende Stoff alle Zeiten überstanden hat und Smetanas dramatische Kunst die seinerzeit völlig nachvollziehbare Werbung für eine befreite tschechische Nation derart veredelte, dass sie auch heute noch in einem Europa der Vaterländer ohne jeden Abstrich zu wirken vermag. Um es noch einmal mit den Sätzen auf der Homepage zu sagen: „In Anlehnung an eine alte tschechische Fabel über die Fürstin Libuše preist Smetana in seiner Oper nicht nur den vergangenen Ruhm der Nation, sondern hebt vor allem ein absolut zeitloses Ideal hervor, das heute als nahezu unerreichbar erscheinen mag – die Liebenswürdigkeit, Bescheidenheit, Weisheit und Einmütigkeit der Repräsentanten einer Nation und der Gesellschaft überhaupt.

Worum geht’s? Libuše, so heißt die mythische Urherrscherin der vorchristlichen Böhmen, die zugleich als gerechte Richterin fungierte, bevor sie sich einen Gemahl, den Bauern Přemysl, erwählte, mit dem sie dann zusammen regierte. Libuše geht also, pointiert ausgedrückt, in eine relativ undramatische Richtung, die in einem fast handlungslosen dritten Akt gipfelt. Zwar gibt es auch hier jenen handlungsauslösenden Konflikt – den Streit der Parteien –, doch weist er weit über den privaten Nachbarschaftszwist hinaus. Hier sind es zwei Brüder, Chrudoš und Šťáhlav, die sich bekriegen, woran die Liebe, also die junge Krasava, schuld ist – dies als Hommage an den zeitgenössischen Operntypus der Grand Opéra: private und politische Motive verflechten sich. Dass sich zwei Brüder und nicht zwei Nachbarn streiten, hat einen tiefen Grund: wenn sie sich am Ende versöhnen und der raubeinige unter ihnen vor der Fürstin das Knie beugt und der neue Herrscher ihm großmütig Verzeihung gewährt, wird klar, worauf die Dramaturgie zielt: auf die nationale Versöhnung. Libuše und ihr Gatte repräsentieren das schlechthin ideale Monarchen Paar, in deren Reich die Gesetze und der Frieden herrschen sollen. Konzipiert als Fest- und Nationaloper, entbehrt die Oper – wir befinden uns im tiefen 19. Jahrhundert – der Problematisierung der Frage, was mit der Gesellschaft passiert, wenn das weibliche Herrscherprinzip des intuitiven Sehens und freundlichen Richtens durch das männliche abgelöst wird. Freilich darf man erwarten, dass auch im Reiche Přemysls das Gerichtswesen von der Güte, nicht von der Verdammnis bestimmt wird. So deutet es ja schon der versöhnliche Schluss an.

© Hana Šmejkalová / Národni divadlo

Smetana und sein Librettist Josef Wenzig gewannen allerdings durch die holzschnitthafte Gestalt des Dramas die Möglichkeit, in besonders großen, affirmativen wie effektvollen Bildern zu argumentieren, bei denen man sich als Tscheche gegenüber einer k. u. k.-Monarchie auf der Seite der gloriosen Zukunft wähnen durfte. Smetana hat vom ersten bis zum letzten Takt eine Musik geschrieben, die pathetisch, festlich, massenbewegend ist – und doch niemals dem Primitivismus des nationalistischen Schwachsinns verfällt. Meisterhaft instrumentiert, melodisch charakteristisch, spannungsmäßig gut organisiert kommt diese Musik daher, die in einem grandiosen Chorfinale mündet. Ariose Nummern sind sehr selten; herausragend ist Přemysls Lied an die Linden, in dem er emphatisch die Bäume preist: „Mit Recht geheiligt seid ihr meinem Volke.“ Auch diese Arie erweist sich dem allgemeinen Stil des Werks als ebenbürtig: im Ton der feierlichen Emphase vermischen sich persönliche und nationale Gefühle auf unschlagbare Weise. Erst recht im dritten Akt, der keine private Handlung mehr kennt. Nach der Versöhnung der Brüder herrscht der Jubel, werden die Götter gepriesen. Der Auftritt des zukünftigen Gemahls wird mit einem Chor von 12 festlich gekleideten Jungfrauen feierlich vorbereitet; die Gefühle, die Libuše unmittelbar davor ausspricht, gehören dem Volk, das mit dem Schicksal der Frau unmittelbar verbandelt ist. Der Segen des Vaters Krok soll ihr und dem Volk Glück bringen „durch Jahrhunderte, – / dass des Geschickes Zorn mein Volk nicht packe / und nicht verhülle seines Glückes Stern!“ „Dem Volke wie auch mir / durch Jahrhunderte“ – „i národu i mně / po staletí“, sie wiederholt diese Formel mehrmals, auf dass es auch jeder höre. Den Schluss der Oper macht denn auch, wie im Mythos, die Weissagung, allerdings mit einer entscheidenden Änderung: Es ging Smetana nicht um die Gründung der Stadt Prag, die nicht einmal zitiert wird. Es ging ihm um die Darstellung herausragender Vertreter der böhmischen Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die der Seherin und dem Publikum erscheinen: als Repräsentanten der einstigen nationalen Unabhängigkeit und Größe. Im Hintergrund der Bühne treten plötzlich, einander ablösend, bedeutende Figuren auf. Die Inszenierung verzichtet auf jegliche Konkretisierung, indem das stürmische Meeresgewoge des Beginns – gleichsam der Sturm der Geschichte – von Neuem zu sehen ist (2018 waren hier noch abstrakte Farbspiele zu sehen). Die letzten Worte vermögen sogar den Nicht-Tschechen zu ergreifen: „Český národ neskoná, / on pekla hrůzy slavně překoná!“ – „Die tschechische Nation wird nicht untergehen, sie wird die Schrecken der Hölle glorreich überwinden!“ Wie das 1968 klang, kann man sich vorstellen – ein bewegendes Filmdokument, mit der grandiosen Milada Šubrtová, vermag etwas davon mitzuteilen.

Reden wir von der Musik, so müssen wenigstens ein paar besonders „schöne Stellen“ genannt werden, obwohl Libuše zu jenen Werken gehört, die, wie Arnold Schönberg gesagt hätte, keine schönen Stellen besitzen, weil sie, da von einem Meister komponiert, insgesamt schön sind: Das Fanfaren-Vorspiel und seine Fortsetzung mit den zarten Holzbläsern, die Ankunft und Anrede Libušes an die Kmeten und Lechen, die Älteren und Edlen, die Offenbarung Krasavas gegenüber ihrem Vater Lutobor, der Fernchor der jugendlichen Schnitter, das monologische Liebesbekenntnis Přemysls, die Ankunft der reitenden Boten (rhythmische Pizzicati!) bei Přemysl und sein Abschied von seinem Heimatort, der orchestrale Beginn des dritten Akts, die Versöhnung der Brüder und der Frauen im Quintett mit Lutobor, die Musik der Weissagung samt vielfältig variiertem Hussitenchoral, insbesondere die Sturmpassagen und der verdämmernde Schluss undundund…

© Hana Šmejkalová / Národni divadlo

Dass der Neujahrsabend im Prager Nationaltheater gelingt, liegt zuallererst an den Musikern. Das Orchester des Národni divadlo agiert unter seinem Dirigenten Robert Jindra schlichtweg vollkommen. Man weiß nicht, was man mehr loben soll: die Einzelleistungen – das Solo-Violoncello, die exzellente Hörnergruppe, die satten Streicher… – oder das Tutti-Ensemble. Jindra nimmt in der 23. Vorstellung dieser Produktion die Tempi ruhig und gelassen, ohne in den Schlendrian zu fallen. Damit reagiert er auf die zeremonielle Tonsprache der Oper und die Szene, die dem Werk quasi werkgerecht entgegenkommt, indem die dramatische Potenz in Lebenden Bildern und Tableaus, wie sie die Smetana-Zeit so schätzte, meist bildschön erstarrt. Interaktionen begegnen selten, aber man vermisst sie nicht. Oft wird, nicht allein in den grandiosen Chorszenen, direkt zum Publikum gesungen. Burian inszenierte über weite Strecken ein Stehtheater, wie es einst in den tschechischen und aussertschechischen Operntheater üblich war, aber es macht Sinn, weil es – das ist, ich weiß nicht, wieso, ästhetisch gelungen und auch bewegend – die Figuren mit Hilfe von Rollbändern auf die von Daniel Dvořák entworfene, so einfache wie sinnfällige Szene bringt (eine Treppe, der zentrale Stein als Ort des späteren Grundsteins, der Friedhof mit neun schwebenden, wie von Magritte gemalten Steinen, zwei Landschaftsgemälde). So wird ein Eindringen, das man als „dramatisch“ empfinden könnte, erfolgreich verhindert. Das Ganze wird in einen großen goldenen Gemälderahmen gebracht, woran man sieht, dass wir es mit wirklichen „Bildern“ aus der böhmischen Urgeschichte zu tun haben. Der Chor, der über weite Strecken in diesen „Bildern“ zu Gruppen eingefroren wird oder vornehm wandelt, ist übrigens, ganz wie das Orchester, von bester Qualität; unter dem Chorleiter Pavel Vaněk singt er einen denkbar festlichen Smetana. Ebenso betörend: die Choreographie Petr Zuskas. Entzückend sind ja schon das über der Bühne schwebende, eilig laufende und arbeitende Schnitterquartett – ein wunderbares Analogon zum bezaubernden Off-Chor. Wer grazile Amazonen mag, bekommt ein Damen-Trio serviert, und wer Filme schätzt, darf nicht allein die Meereswogen, auch einige atmosphärische Lindenschimmer und einen hinreißenden Zug samt Libušes Schimmel betrachten.

Libuše ist an diesem Abend Mária Porubčinová. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen bildet sie ein Ensemble aus harmonisch zusammenpassenden Stimmen, wovon nicht allein das Sextett zeugt. Im Národni divadlo wird glücklicherweise nicht mikrofoniert, was auch deshalb gelingt, weil das Orchester wirklich geführt wird und nicht allein Porubcinovás Stimme gut trägt. Ihren ersten wirklich großen, also stimmlich rundum fordernden Einsatz hat sie in der Gerichtsszene des ersten Akts, ab jetzt „läuft“ ihre Stimme ideal am Notentext entlang, ohne forcieren zu müssen. Mit Jiří Brückler hat man einen erstklassigen, sonor auftretenden Přemysl zur Verfügung, mit der Tamara Morozvá eine glänzende Krasava (glänzend, weil sie Lyrik mit dramatischem Impetus verbindet), mit František Zahradnicek einen markanten und markigen, doch nicht rauhen Chrudoš engagiert.

© Hana Šmejkalová / Národni divadlo

Sein Bruder Šťáhlav ist der Tenor, Aleš Briscein habe ich im selben Haus als Lohengrin erlebt: auch er eine vokal ausgewogene, nichts verschmierende Spitzenbesetzung für die weniger umfangreiche, aber zumal im lyrischen Bereich anspruchsvolle Rolle. Gleichermaßen prominent wurde Lutobor mit Pavel Švingr besetzt, nicht weniger schöntonend-charakteristisch der Radovan mit Aleš Jenis: ein Heerrufer, Kammerherr und Berater von hohen stimmlichen Graden. Und nicht zuletzt wurde als Radmila, Krasavas Vertraute, mit Michaela Zajmi eine Sängerin in einer „Wurzen“ eingesetzt, die auch von erster Güte sein muss, um die Fest-Oper vollkommen zu gestalten. Last not least: das ausgesprochen gute Schnitterquartett Veronika Kaiserova, Lucie Hájková, Yvona Škvárová und Petr Dvořák, ohne das eine der schönsten Szenen der Oper nicht stattfinden könnte. Für den Rest sorgt neben dem Balletcorps das Künstlerische Hochschulensemble der Karls-Universität, um sich zusammen mit Chor, Orchester und Tänzern des Nationaltheaters in das „festliche Singspiel“ zu begeben – ein Werk, das nicht von gestern ist, weil Liebe, Gerechtigkeit und Versöhnung hier wie dort, im sog. Privaten und im Staatlichen, nicht allein am Neujahrstag gepredigt werden sollten. Und weil Smetanas Opern unsterblich zu sein scheinen.

Begeisterter Beifall also für einen solennen wie faszinierenden Abend.

PS: Dass einige Zuschauer wieder einmal in die leisen Bild-Schlüsse hineinklatschen, sollte, kein Witz, mit Opern-Entzug nicht unter zwei Jahren bestraft werden – damit sie wenigstens am nächsten Neujahrstag keine Chance haben, die Musik und die Musikliebhaber zu stören.

PPS: Wer Lust bekommen hat, sich die Produktion anzuschauen und -zuhören, aber keine Zeit hat, nach Prag zu fahren, kann es hier tun: https://www.youtube.com/watch?v=ESkAXQ4OhSY

Frank Piontek, 3. Januar 2025


Libuše
Bedřich Smetana

Národni divadlo, Praha

Besuchte Vorstellung: 1. Januar 2025
Premiere am 14. September 2018

Inszenierung: Paul Burian
Musikalische Leitung: Robert Jindra
Orchester des Národni divadlo