München: „Aida“, Giuseppe Verdi

Guiseppe Verdis Aida gilt als der Inbegriff einer pompösen Oper, griffen vergangene Inszenierungen doch sogar auf lebendige Elefanten zurück, um ägyptische Triumphmärsche darzustellen. Auf so etwas muss das Münchner Publikum verzichten. Der Italiener Damiano Michieletto inszeniert Verdis Oper ohne Ägyptenbezug und ohne große Showeffekte. Bei der Premiere bringt ihm das Buhrufe ein, aber das Konzept funktioniert auf der Bühne. Trotz Schwachstellen in der Ausführung gelingt es Regisseur Michieletto, einen hochemotionalen, überzeugenden Opernabend auf die Bühne zu bringen.

(c) Willfried Hösel

Auf der Bühne wird ein Kind beerdigt. Der Bote, der im ersten Akt die Nachricht des Angriffs durch die Äthiopier bringt, trägt den blutigen Leichnam auf die Bühne. Zwei Statisten betten das Kind in einem weißen Sarg und schließen den Deckel, weinend sinkt die Mutter über ihrem Kind zusammen. Das Ganze passiert fast schon beiläufig. Musikalisch wie szenisch aber liegt der Fokus auf dem König, der den Gegenangriff beschließt, und auf Radamès, der stolz auf seine Ernennung zum Feldherrn reagiert. Der Chor unterstützt eifrig die Kriegserklärung. Für die Mutter interessiert sich niemand außer Aida, die selbst durch den Krieg ihre Familie verloren hat. Die jubelnden „Guerra! Guerra!“-Rufe des Chores auf der einen, die trauernde Mutter auf der anderen Seite – denkbar ausdrucksstark stellt Damiano Michieletto Kriegsbegeisterung und die Zerstörung menschlicher Schicksale einander gegenüber.

Nicht nur in dieser Szene ist die Bedrohung durch den Krieg präsent. Bühnenbildner Paolo Fantin hat auf der Bühne eine verfallene Turnhalle aufgebaut. Ehemals ein Ort der Freude, wie es im Begleitmaterial zur Inszenierung heißt, ist diese Halle nun ein Ort, an dem Menschen Schutz suchen – und ihn nur bedingt finden. Das Dach der Turnhalle ist von Bombeneinschlägen durchlöchert, hin und wieder regnet Asche auf den Hallenboden. Die niedrige Decke des Raums sorgt zusätzlich für ein beklemmendes Gefühl. Das ist ein starker, aber willkommener Kontrast zum Libretto von Aida, in dem der Krieg zwar ein handlungstreibendes Element ist, aber am Ende doch von Triumphmärschen und der tragischen Liebesgeschichte zwischen Aida und Radamès übertönt wird.

(c) Willfried Hösel

Einen konkreten Ort für die Handlung seiner Inszenierung wählt Damiano Michieletto nicht. Die Flagge, die Radamès für seinen Feldzug erhält, wird nie enthüllt. Wir erfahren nicht, für welches Land er kämpfen wird. Natürlich, manchem Opernbesucher, der sich „seinen“ Klassiker so gewünscht hätte, wie er immer schon gemacht wird, missfällt, dass die exotischen, ägyptischen Dekorationen fehlen, andere vermissen einen direkten Bezug zum Ukrainekrieg – aber Michielettos Konzept braucht keinen klaren Ortsbezug. Ihm geht es um das Verhältnis von Menschen, Gesellschaft und Krieg, um Menschen, die am Krieg zerbrechen – das kann zu jeder Zeit an jedem Ort passieren, Krieg ist überall grausam. Die von Aida immer wieder besungene Patria, die Heimat, deuten Michieletto und sein Team kurzerhand um: Anstelle eines Heimatlandes, in Aidas Fall Äthiopien, meint das Wort nun eine emotionale Heimat, die heile Welt vor dem Krieg. Dargestellt wird die Heimat durch eine Vision von Aidas Familie: George Petean tritt als ihr Vater Amonasro auf – in der Oper kommt er erst viel später vor. Er spielt mit einer Statistin und einem kleinen Kind, die Aidas Mutter und die junge Aida darstellen. Wie anders die Realität doch ist, wird später klar, als Amonasro als Gefangener wieder auftritt, die Mutter aber gar nicht mehr auftritt: Sie ist schon vor der Bühnenhandlung durch den Krieg ums Leben gekommen.

Gefahr der radikalen Umdeutung eines Stoffs, wie Michieletto sie hier unternimmt, ist natürlich ein möglicher Widerspruch mit der Musik. Guiseppe Verdi hat Aida schließlich in einer Zeit komponiert, in der Regietheater, wie wir es heute kennen, ganz und gar undenkbar war. In diesem Fall aber funktioniert das Zusammenspiel von Komposition und Inszenierung erstaunlich gut. Denn auch die Musik verlangt nicht nach pompöser Ausgestaltung des Werks, vielmehr ist sie durch und durch menschlich. Schon die Ouvertüre beginnt mit feinen, fast schon zerbrechlichen Klängen, die Daniele Rustioni bravourös herausarbeitet.

(c) Wilfried Hösel

Die Zerbrechlichkeit bleibt der Oper den ganzen Abend erhalten. Widerspricht Michielettis Interpretation doch einmal der Musik, nutzt der Regisseur den Gegensatz als kluges Gestaltungsmittel. Besonders prominentes Beispiel hierfür ist der berühmte Triumphmarsch aus dem zweiten Akt, wenn Radamès nach seinem Feldzug zurück in Ägypten als siegreicher Heerführer willkommen geheißen wird. Siegreich, ja, das ist er bei Michieletto auch, doch er kann nicht triumphieren. Zu schwer wiegen die Traumata. Während anderen Offizieren Orden verliehen werden, bricht Radamès zusammen. Eine Leinwand fährt hinunter und trennt ihn vom Bühnengeschehen. Auf der Leinwand sieht man erst Bilder von jubelnden Frauen und Kindern, eine freudige Begrüßung der Soldaten, dann schwer verwundete Menschen. Durch die Leinwand sieht man die Ordensverleihung ungeachtet Radamès‘ Zusammenbruch weiterlaufen, vor der Leinwand kauert er auf dem Boden. Aus den Proszeniumslogen blasen die Aida-Trompeten den Triumphmarsch. Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen wird noch einmal verdeutlicht, was den ganzen Abend schon Thema war: Das Leid der Menschen ist größer als der militärische Sieg, aber niemand interessiert sich dafür.

Bis zur Pause ist die Inszenierung manchmal plakativ – zum Beispiel sind die Lichtstimmungen viel zu kontrastierend und dadurch überdeutlich – aber im Großen und Ganzen doch überzeugend. In der zweiten Hälfte aber verliert sie merklich an Substanz. Die bis dahin noch im Realismus verankerte und auf diese Weise verstärkte Symbolik hängt nun buchstäblich in der Luft. Der Ascheregen etwa wirkt in den ersten beiden Akten noch einigermaßen an die Bühnenhandlung gekoppelt, im dritten Akt wird es schwieriger, zu verstehen, warum er kommt, wann er kommt, und wie man ihn zu deuten hat. Die hochfahrenden Wände dienen vielleicht als Symbol für die Möglichkeit zur Rettung, die Amneris Radamès einräumt, sind als solches zu simpel, um verstanden zu werden. Apropos Amneris und Radamès – auch die Charakterisierungen der Figuren wackeln. Amneris etwa ist von der Regie wohl explizit nicht als Bösewicht gedacht, aber auf der Bühne viel zu zweidimensional, um nicht als solcher wahrgenommen zu werden. Das ist besonders schade, weil ihr im vierten Akt noch eine wichtige Rolle zukommt, die vielleicht mehr Vorarbeit erfordert hätte. Die sehr stark gestaltete Aida wirkt nach der Pause ein wenig verloren, und auf Radamès Zusammenbruch, sein eben noch so eindrucksvoll ausgearbeitetes Trauma, wird so gut wie gar kein Bezug mehr genommen. Gleichzeitig ist bis zum Schluss unklar, ob Amonasro ein Gefangener, wie im Libretto, oder ein Flüchtling ist – ausgerechnet also das Verhältnis zwischen Menschen, Gesellschaft und Krieg, um das es in dieser Inszenierung doch gehen soll, wird im dritten und vierten Akt ziemlich undurchsichtig.

(c) Willfried Hösel

Auch musikalisch gerät der Abend ein wenig unrund. Daniele Rustionis Dirigat ergänzt zwar fantastisch Michielettos Inszenierung, eine eigene Handschrift ist aber nicht erkennbar. Das Bayerische Staatsorchester spielt gewohnt erstklassig, der Bayerische Staatsopernchor überzeugt, bravourös einstudiert von Johannes Knecht. Sängerisch gibt es zahlreiche Highlights, aber leider auch nicht wenige schwache Momente. Der amerikanische Tenor Brian Jagde punktet als Radamès mit einem kräftigen, baritonalen Stimmklang, gerade die berühmte Arie „Celeste Aida“ klingt dann aber enttäuschend farblos. Den ganzen Abend über bleibt er ein wenig hölzern. Ihm gegenüber glänzt Elena Stikhina als eine wahrlich himmlische Aida. Ihre Stimme besticht durch Zartheit bei viel wunderschöner Strahlkraft. Sie gestaltet die Partie emotional nahbar und fast schon zu Tränen rührend. Anita Rachvelishvili singt mit der Amneris eine ihrer Paraderollen, hat aber die ganze Vorstellung über mit Intonationsproblemen zu kämpfen, Einsätze im hohen Register geraten oft krächzend – in der tiefen Lage aber gelingt ihr die Partie sehr ausdrucksstark. Gänzlich überzeugen kann dann wiederum Alexander Köpeczu als Ramfis mit einer weichen und gleichzeitig kommandierenden Stimme. George Peteans darstellerisch überzeugender Amonasro gerät etwas zu leise, Alexandros Stavrakakis singt den König souverän. Von hinter der Szene singt wunderschön Elmira Karakhanova die Priesterin, Andrès Agudela beeindruckt als Bote mit Kind auf dem Arm.

Am Ende verlässt man das Haus dennoch mit einem positiven Gesamteindruck. In den letzten Szenen fahren alle Sänger noch einmal zu Höchstleistungen auf, und die Regie findet zu ihrem Konzept zurück. Höchst eindrucksvoll wird ein letztes Mal gegenübergestellt, was Wirklichkeit ist, und was hätte sein können, wären die Umstände nicht so schrecklich. Radamès sitzt auf einem riesigen Aschehaufen, in dieser Inszenierung das Symbol für sein Gefängnis, von der Seite tritt Aida auf. Sie trägt ein Brautkleid, ob sie echt ist, oder nur eine Vision Radamès, ist nicht eindeutig, aber es ist auch nicht wichtig. Sie ist da, in irgendeiner Form. Mit ihr treten Statisten auf, darunter Amonasro wieder als freier Mann, an der Hand Aidas Mutter. Die Statisten bringen Luftballons und bewegen sich in träumerisch-langsamer Bewegung. In einer besseren Welt versteht man, hätten Aida und Radamès vielleicht geheiratet und ein fröhliches Fest gefeiert. In der realen Welt werden sie beide sterben.

(c) Willfried Hösel

Auf der Vorderbühne spielt sich noch eine weitere Ebene ab: Auch Amneris ist entmachtet. Sie trauert um Radamès‘ Verlust, Ramfis zwingt ihr einen Verlobungsring auf. Der König, Ameris‘ Vater, tut nichts dagegen, trotz des offensichtlichen Unwillens seiner Tochter. Für niemanden auf der Bühne ist dieses Ende schön, für das Publikum wird es dadurch umso intensiver. Nach der sonst verhältnismäßig schwachen zweiten Hälfte rundet dieses Finale den Abend ab und macht die Inszenierung zu einem hochemotionalen Ereignis.

Adele Bernhard, 25. Mai 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Aida

Giuseppe Verdi

Staatsoper München

Besuchte Premiere 15. Mai 2023

Bühnenbildner Paolo Fantin

Regie: Damiano Michieletto

Dirigat: Daniele Rustioni

Johannes Knecht, Chor der Bayerischen Staatsoper