Das Theater Halberstadt feiert in der Spielzeit 2023/24 ein kleines Jubiläum, war doch das Theatergebäude – 1948 aus Ziegelsteinen zerbombter Häuser errichtet – der erste Theaterneubau in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Das kleine Drei-Sparten-Theater hat eine wichtige Aufgabe, indem es Kultur in seine Stammhäuser Halberstadt und Quedlinburg sowie in viele andere Orte des östlichen Harzvorlands und darüberhinaus bringt. Zu Beginn dieser besonderen Spielzeit gab es nun Puccinis berühmte und beliebte Oper „La Bohème“. Die stimmige Neuinszenierung erzählt die traurige Geschichte erfreulicherweise so, wie sie von den Librettisten und dem Komponisten konzipiert ist.
Die Regisseurin Andrea Moczko hat die Handlung auch nicht dadurch verfremdet, dass sie sie in eine andere Zeit oder an andere Orte verlegt hat. Sie hat sich nach dem Willen der Autoren gerichtet und lässt sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also im Biedermeier spielen. Damit entspricht sie auch dem 1851 erschienenen Roman von Henry Murger „Szenen aus dem Leben einer Boheme“, der der Oper zugrunde liegt. Das Bühnenbild des 1. Bildes zeigte dies deutlich, indem Carl Spitzwegs „Armer Poet“ und dessen Dachstube mit einem schwarzen aufgespannten Regenschirm unter durchlässigem Dach zitiert wurde. Ansonsten gab es klare, atmosphärisch dichte Bühnenbilder, in denen die Akteure in zeitgerechten Kostümen (Ausstattung: Robert Pflanz) auftraten. Insgesamt ist der Regisseurin zu bescheinigen, dass sie mit schlüssiger Personenführung die unterschiedlichen Charaktere der Protagonisten und deren Beziehungen zueinander plausibel offenlegte. Dazu trug natürlich auch das jeweilige gute Darstellungsvermögen des internationalen Gesangsensembles des Harztheaters entscheidend bei.
Da ist zunächst der Südkoreaner Max An als Rodolfo zu nennen, der den armen Dichter in seinen zwiespältigen Gefühlen zur todkranken Mimi durchweg glaubhaft darstellte. Erneut gefiel sein angenehm dunkel timbrierter, in allen Lagen abgerundeter Tenor mit glanzvollen Spitzentönen. Seine Mimi war Jessey-Joy Spronk aus den Niederlanden, die durch anrührende Gestaltung überzeugte. Sie gab ihrem besonders in den leiseren Passagen schön aufblühenden Sopran zeitweise zu viel Druck, was wohl auch an dem etwas zu laut spielenden Orchester lag. Das seit langembewährtefinnischeEnsemble-Mitglied Juha Koskela gabden Maler Marcello, den er mit seinem kultivierten und stets technisch vorbildlich durch alle Lagen geführten Bariton versah. Die von ihm trotz immer wieder aufbrausender Eifersuchtsanfälle geliebte Musetta war die französische Koloratursopranistin Bénédicte Hilbert. Sie zeigte überbordendes Temperament und gefiel mit blitzsauberer, höhensicherer Stimmführung. Es machte einfach Spaß, wie sie den Männern im bunten Treiben im Café Momus – geradezu ein „Wimmelbild“ – den Kopf verdrehte, vor allem Marcello und nebenbei ihrem ältlichen Begleiter Alcindoro (Tobias Kiuntke, der auch Benoit gab).
Zu den „Hungerkünstlern“ gehören auch der Musiker Schaunard, den der Deutsch-Amerikaner Samuel Berlad mit charaktervollem Bariton gab, und der Philosoph Colline, verkörpert vom langjährigen Ensemblemitglied Gijs Nijkamp, der durch die stilvoll gesungene, kleine „Mantel-Arie“ für sich einnahm. Youngwon Yoo (Parpignol), Volker Jaremko und Helmut Müller (Mitglieder der Zollwache) ergänzten passend. Opernchor und Verstärkungschor (Jan Rozehnal) sowie der Kinderchor (Julija Domaševa) des Harztheaters stürmten zu Beginn des 2. Bildes aus dem Publikum auf die Bühne, um dort trotz allen Gewimmels klangschön und ausgewogen zu singen.
Die Harzer Sinfoniker waren gut in Form; Musikdirektor Johannes Rieger am Pult wählte durchgehend flotte Tempi und hielt alles sicher zusammen, ließ aber das Orchester aber oft zu sehr lärmen, was besonders im 1. Bild zu teilweise mangelnder Verständlichkeit der Gesangssolisten führte. Das Publikum zeigte sich begeistert und dankte allen Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Applaus.
Gerhard Eckels, 4. November 2023
La Bohème
Giacomo Puccini
Harztheater Halberstadt
Premiere am 13. Oktober 2023
Besuchte Vorstellung am 3. November 2023
Inszenierung: Andrea Moczko
Musikalische Leitung: Johannes Rieger
Harzer Sinfoniker