Odradek, das kühne Label, präsentiert mit Stolz die zweite Etappe seiner ehrgeizigen Gesamteinspielung aller Mahler-Sinfonien durch die Jenaer Philharmonie unter der Leitung von Simon Gaudenz. Diese Veröffentlichung ist nicht nur als gewaltige künstlerische Herausforderung zu betrachten, sondern auch als Hommage an Gustav Mahlers einzigartige Klangwelt. Neben den Hauptwerken von Mahler werden dem Hörer auch Kompositionen von Andrea Lorenzo Scartazzini präsentiert, die nicht nur als eigenständige Werke stehen, sondern eine Brücke zu Mahlers Schöpfungen schlagen sollen. Scartazzinis Beitrag ist zweifellos unkonventionell und beinhaltet Klänge, die sich sehr schwer in die Klangvorstellung Mahlers integrieren lassen. Trotzdem zeigt sich Scartazzini von Anfang an mit einer tiefen Leidenschaft für die Aufgabe, diese Verbindung herzustellen. Seine Komposition „Epitaph“ von 2018/19, die sich um Mahlers zweite Sinfonie, die „Auferstehungssinfonie“, dreht, fungiert als ein elegisches Vorwort zu Mahlers Werk.
Hierbei sind die beiden vorangegangenen Stücke, Scartazzinis „Torso“ und „Epitaph“, ineinander verwoben und bilden so eine musikalische Kontinuität zwischen Mahlers erster und zweiter Sinfonie. Ein ähnliches Konzept verfolgt Scartazzini mit „Spiriti“, das im Kontext von Mahlers dritter Sinfonie steht. Die Idee, Mahlers unveröffentlichtem „Programm“ dieser Sinfonie Geister der Natur hinzuzufügen, klingt auf dem Papier faszinierend. Jedoch gestaltet sich der Übergang von Scartazzinis „Spiriti“ zum Beginn der dritten Sinfonie als problematisch und wirkt arg erzwungen. Die überaus deutlichen stilistischen Reibungen zwischen den Werken beider Komponisten erscheinen in diesem Kontext weniger organisch als konstruiert. Diese Werke, die Scartazzini geschrieben hat, könnten mit jedem beliebigen anderen Komponisten verbunden werden, ohne einen Unterschied im Effekt zu ergeben. Sie bleiben primär atonale Ergänzungen und zeigen keinen wirklich erkennbaren Weg zu Mahler auf. Simon Gaudenz leitet die Jenaer Philharmonie mit viel Engagement und zügig durch die einzelnen Sätze. Im Vergleich zu den vorherigen Aufnahmen der Sinfonien vier und fünf gewinnen diese Einspielungen an Schärfe und einer eigenen Klangsprache. Die Interpretation von Mahlers zweiter Sinfonie zeichnet sich durch Intensität und eine sorgfältige Dramaturgie aus. Gaudenz wählt für alle Sätze ein eher flottes Tempo, das dem Stück einen dynamischen Antrieb verleiht. Besonders beeindruckend sind die Farben, die die Holzbläser des Orchesters entfalten. Ihre vielfältige Palette vermittelt eindrucksvoll die verschiedenen Stimmungen und Charaktere, die in Mahlers Werk miteinander verschmelzen. Das schnelle Tempo verkleinert jedoch die Wirkungsgröße, wie bereits in den vorherigen Aufnahmen. Ein Innehalten und eine deutlichere Variation im Tempo würden den Ausdruck und die künstlerische Aussage wesentlich verbessern. Gaudenz umgeht konsequent die von Mahler geforderten dynamischen Höhepunkte. Offensichtlich ist, dass der Klangkörper zu sehr auf Sicherheit und Kontrolle ausgerichtet ist. Bei beiden Sinfonien bekommt man leicht den Eindruck, dass Energie und Steigerungsmöglichkeiten fehlen. Das Orchester unterstreicht erneut seine Fähigkeit, Klangschönheit mit Präzision zu verbinden. Allerdings gibt es Momente, in denen die Tempi möglicherweise an die Grenzen der Spielbarkeit stoßen. Auch fehlt den Blechbläsern und den Schlagzeugern ein wenig Kondition und Durchschlagskraft, um nachhaltig zu beeindrucken. Selten wurde das große Crescendo des Schlagzeugensembles im fünften Satz so harmlos und schnell dargeboten wie von Gaudenz. Die vielschichtigen Farben und Effekte der verschiedenen Instrumente bleiben ungenutzt, insbesondere da das schnelle Tempo einem Spannungsaufbau entgegenwirkt. Das klingt lediglich ordentlich und brav. Die große Steigerung am Schluss der zweiten Sinfonie wird zu schnell aufgebaut, sodass die Pauke im finalen Abschlag des Werks fehlt. Diese kleine Unstimmigkeit beeinträchtigt leider die finale Wirkung der Aufführung erheblich. Es fehlt der abschließende Höhepunkt! Die vokalen Solistinnen Jana Baumeister und Evelyn Krahe liefern gute Leistungen. Ihre Textverständlichkeit ist hervorragend, speziell Evelyn Krahe im „Urlicht“ sticht hier hervor. Die Position der Gesangsstimmen ist dabei ungewöhnlich nah am Ohr des Zuhörers, was dem Vortrag bedauerlicherweise ein wenig den Zauber nimmt. Die Aufnahme fängt jedoch die mystischen Fernmusiken gut ein und vermittelt dem Zuhörer ein authentisches Raumgefühl. Jana Baumeister im „Auferstehungschor“ überzeugt mit sonnigem Sopranglanz und setzt damit glanzvolle Akzente. Der textverständliche und intonationssichere Chor der Jenaer Philharmonie beeindruckt mit einem feinen a-cappella-Beginn und besonders im Finale mit starker Stimmgebung. Enttäuschenderweise bleiben Orgel und Glocken an dieser Höhepunktstelle zu dezent im Hintergrund. Die Interpretation von Mahlers dritter Sinfonie durch die Jenaer Philharmonie unter Simon Gaudenz zeichnet sich durch ihre Ausgewogenheit und eine differenzierte Klangpalette aus. Gaudenz navigiert geschickt durch die sehr komplexen Strukturen dieses umfangreichen Werks und schafft eine Interpretation, die durch ihre Klarheit und Präzision geprägt ist. Gaudenz erzielt insbesondere feine Effekte in den zahlreichen Naturstimmungen des ersten und dritten Satzes. Die Orchestersolisten meistern ihre Aufgaben gut, doch im Tutti-Klang fehlt es hin und wieder auch hier an Kraft und Mut. Insgesamt erfolgt der Vortrag vornehmlich kultiviert, ohne einen tieferen Blick auf das zu richten, was hinter den Noten steht. Die komponierte, vom Klang überwältigende Wirkung ist auch hier selten zu hören. Die Klangfarben von Ida Aldrians Stimme im Alt-Solo wirken recht eigenartig. Ihr zu heller Mezzosopran Klang besitzt nicht die Fülle und Körperlichkeit einer Altstimme, sondern wirkt eher flach, obwohl sie engagiert und textverständlich singt. Der Knabenchor und der Philharmonische Chor singen zuverlässig im fünften Satz. Im letzten Satz des Werks kann die Jenaer Philharmonie mit ihrer ausgeprägten Klangschönheit punkten. Hier gibt auch Simon Gaudenz etwas im Tempo nach, zieht es jedoch leider am Ende des Satzes unnötigerweise wieder an. Dadurch und durch die weichen Pauken verpufft dieses grandiose Finale in seiner Wirkungsmöglichkeit schmerzlich. Es wirkt beiläufig und in der Wiedergabe lediglich akademisch musiziert. Kein Zauber, keine Pracht. Schade. Trotz der Einwände gelingt es der Jenaer Philharmonie und Simon Gaudenz, Mahlers dritte Sinfonie als ein komplexes und beeindruckendes Werk zu präsentieren. Gelungen in den Aufnahmen ist zweifellos die herausragende Qualität der Aufnahmetechnik. Das warme Klangbild der Jenaer Philharmonie wird durch eine deutliche Präzision und Klarheit noch verstärkt. Die Instrumentation wird detailgetreu wiedergegeben, und die räumliche Dimension vermittelt dem Hörer ein farbiges Hörerlebnis. Einzig das Schlagzeug scheint etwas zu deutlich im Hintergrund zu verbleiben. Die Aufnahmen stecken voller subtiler Nuancen, die sowohl die klangliche Tiefe als auch die kompositorischen Höhepunkte der Werke hervorheben. Das CD-Beiheft ist ein weiterer Pluspunkt dieser Veröffentlichung. Es ist informativ, bietet Einblicke in die künstlerischen Entscheidungen von Dirigent und Komponist. Das umfangreiche Begleitmaterial dient dem Zuhörer als nützliche Orientierungshilfe. Die Leistung der Jenaer Philharmonie auf diesen Aufnahmen ist beeindruckend. Ihr Enthusiasmus und ihre Präzision sind bewundernswert. Sie zeigen ein hohes Maß an musikalischer Integrität und geben ihr Bestes, um die Komplexität von Mahlers Werken zu vermitteln. Trotz einiger kritischer Anmerkungen schaffen es die Aufnahmen dennoch, die emotionale Tiefe und die anspruchsvollen Kompositionsstrukturen von Mahlers Werken deutlich zu machen. Das Dirigat von Simon Gaudenz ist lebhaft, wenn auch zurückhaltend im Ausdrucksgehalt und deutlich zu kontrolliert. Er scheint die Höhepunkte der Werke kleinzuhalten, was möglicherweise auf seine zügigen Tempovorstellungen und die Fokussierung auf die Präzision des Klangkörpers zurückzuführen ist. Einerseits ist dies eine interessante Perspektive auf die Werke, die ihnen neue Facetten verleiht. Andererseits fehlen die vielschichtigen emotionalen Abgründe, die Mahlers Musik ausmachen. Es ist sicherlich eine Frage des persönlichen Empfindens, aber wer Mahlers Werke gerne frei von Abgründen und Extremen hören möchte, wird mit diesen Aufnahmen sicherlich zufrieden sein.
Dirk Schauß, 1. Dezember 2023
Gustav Mahler
Sinfonien Nr. 2 und Nr. 3
Torso, Epitaph und Spiriti
Andrea Lorenzo Scartazzini
Jenaer Philharmonie
Simon Gaudenz, Leitung
Odradek, ODRCD 443