Ab 1733 standen in London die Gesellschaft Opera of the Nobility unter Nicola Porpora und die Royal Academy of Music unter Georg Friedrich Händel in Konkurrenz. Händel war damals ein äusserst erfolgreicher Komponist, welcher in 30 Jahren 36 Opern geschrieben hatte. Porpora komponierte damals mehrere „Opere serie“, darunter auch Polifemo und verpflichtete für die Aufführungen seiner Werke nur die renommiertesten Sänger, welche teilweise mit der Academy zerstritten waren. Zu den Künstlern gehörten so klingende Namen wie der Kastrat Senesino, die Sopranistin Cuzzoni und der Dichter Rolli, sowie der berühmteste Schüler Porporas, der Kastrat Carlo Broschi, welche unter dem Künstlernamen Farinelli berühmt war. Bei Polifemo nach dem Libretto von Paolo Antonio Rolli standen alle grossen Stars der damaligen Zeit vereint auf der Bühne. Dies war zwar erfolgreich, führte jedoch 1737 wegen der enormen Kosten zum Bankrott der Opera of the Nobility, genauso wie auch der Academy of Music.
Die Oper dreht sich um Polifemo, den Zyklopen und menschenfressenden Riesen, nach dessen Namen dieses Werk benannt ist. Erzählt wird zum einen von der tragischen Liebe der Nymphe Galatea zum Hirten Acis, welcher ein Opfer von Polifemos Eifersucht wird, sowie die Abenteuer des Odysseus und seine Liebschaft mit der Nymphe Calypso. Wie in der Opera seria üblich, wird die Hierarchie der einzelnen Charaktere durch die Anzahl Arien, welche ihnen zugeteilt sind, unterstrichen. Obwohl diese Oper der größte Erfolg Porporas in London war, geriet das Werk schnell in Vergessenheit.
Die Inszenierung der Französischen Erstaufführung dieses Werkes wurde Bruno Ravella anvertraut. Er ließ die Handlung auf einem Filmset der Cinecitta bei Rom zur Zeit der 1960er Jahre stattfinden, wo damals viele „Sandalenfilme“ gedreht wurden.
Der Zuschauer wird über das Treiben vor den Filmaufnahmen auf dem Set und den Aufbau der Kulissen durch die Bühnenarbeiter auf die Handlung eingestimmt. Wenn dann die Kameras zu laufen beginnen, erlebt man die abenteuerliche Geschichte, welche mit teils raffinierten Elementen gestaltet und durch die Ausstattung und die Kostüme von Annemarie Woods unterstrichen wird. Trotz der an sich originellen Idee wird dieser über drei Stunden dauernde Wechsel zwischen Studio und Filmkulisse mit der Zeit etwas ermüdend und erschöpft sich schließlich in sich selbst.
Auf der musikalischen Seite war diese Aufführung in Mulhouse ein großer Erfolg. Nur wenige Stunden vor der Aufführung musste sich der Sänger des Odysseus als indisponiert melden, sodass die Aufführung gefährdet war. Für eine so selten gespielte Rolle kurzfristig einen Ersatz zu finden war schwierig. Es war der jungen belgischen Mezzosopranistin Camille Bauer zu verdanken, dass diese Vorstellung gerettet wurde. Sie hat innert kürzester Zeit die fünf großen Arien des Odysseus einstudiert, um diese aus dem Orchestergraben zu singen. Da keine Zeit mehr blieb, um auch die Rezitative zu studieren, wurden diese durch die Dirigentin Emmanuelle Haïm vom Dirigentenpult aus gesprochen, während auf der Bühne der indisponierte Sänger Paul-Antoine Bénos-Dijan seinen Part simulierte. Eine wahrlich außerordentliche Leistung. Camille Bauer wurde für ihren Einsatz vom Publikum mit vielen Bravos besonders belohnt.
Mit Franco Fagioli konnte man einen der ganz großen Countertenöre unserer Zeit für die Rolle des Acis gewinnen. Er meisterte diese Partie mit allen Facetten seiner Stimme und begeisterte mit größter Virtuosität.
Madison Nonoa als Galatea verfügt über einen wunderbaren Sopran und ist zusammen mit Ihrer Bühnenpräsenz eine Idealbesetzung für diese sehr anspruchsvolle Partie. Das Duett mit Acis war einer der Höhepunkte dieser Aufführung. Als Calipso war Delphine Galou zu erleben. Sie ist eine erfahrene Barock-Spezialistin und konnte hier einmal mehr Ihre Altstimme bestens zur Geltung bringen. Als Polifemo war der bolivianische Bass José Coca Loza mit profunder Stimme zu erleben. Mit hellem Sopran machte die junge englische Sopranistin Alysia Hanshaw, Artiste de l‘Opéra Studio de l‘OnR, in der Rolle der Nerea, einen sehr positiven Eindruck.
Emmanuelle Haïm am Pult des Ensemble Le Concert d‘Astrée muss man keinem am Barock Genre interessierten Musikfreund mehr vorzustellen. Sie gilt seit langem als beste Referenz für diese Musik. Es gelang Ihr auch dieses Mal, mit den großartigen Musikern des Le Concert d‘Astrée zu begeistern und diese Aufführung zu einem Hörgenuss zu machen.
Das Publikum im ausverkauften Haus geizte nicht mit vielen Bravos und lange andauerndem Applaus.
Marco Stücklin, 6. März 2024
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN
Polifemo
Nicola Porpora
Théâtre de la Sinne, Mulhouse
Vorstellung am 25. Februar 2024
Regie: Bruno Ravella
Dirigat: Emmanuelle Haïm
Ensemble Le Concert d‘Astrée