Stuttgart: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Kurt Weill und Bertolt Brecht

© Martin Sigmund

Die letzte Inszenierung von Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny an der Stuttgarter Staatsoper ist über dreißig Jahre her. Regie führte damals Ruth Berghaus. Man erinnert sich noch gut an diese meisterhafte Produktion. Jetzt wartete die Württembergische Staatsoper mit einer Neuinszenierung dieses beachtlichen Werkes auf. Die Regie lag in den Händen von Ulrike Schwab, das Bühnenbild stammte von Pia Dederichs und Lena Schmid und die Kostüme besorgte Rebekka Dornhege Reyes. Das war ein wahrhaft gelungener Opernabend, der noch lange in Erinnerung bleiben wird. Die Regisseurin setzte auf eine gelungene Gratwanderung, die sowohl für moderne als auch für traditionell eingestellte Gemüter einiges bereit hielt. Ihren hohen Respekt für die Stuttgarter Vorgänger-Produktion des Mahagonny-Werkes von Ruth Berghaus bewies die Regisseurin, in dem sie den Benares Song, mit dem damals die Berghaus‘ Interpretation des Stückes endete, jetzt an den Anfang stellte.

Mahagonny erfährt in der Deutung von Ulrike Schwab keine konkrete örtliche Festlegung. Es ist vielmehr geistig zu begreifen. Hier haben wir es mit einer Phantasiestadt zu tun, in der sich der Kapitalismus als Utopie vorstellt (Dramaturgie bei der Matinee). Die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen als reine Idee manifestieren sich in einem nur vorgestellten Ort Mahagonny. Der Bühnenraum lässt Platz für vielfältige Assoziationen. Die Menschen sind hier nicht glücklich. Sie fristen ihr Dasein in einer krisengeschüttelten Zeit und begeben sich auf die Suche nach dem Glück. Nachhaltig versucht die Regisseurin, das Verhalten dieser Menschen zu kommentieren, was ihr auch trefflich gelingt. Sie sieht Mahagonny als großangelegten Weltenentwurf, als Option eines Neuanfangs. Im Programmheft auf S. 20 bezeichnet sie Mahagonny als ein Versuch, ein Wunsch und vielleicht auch eine Sehnsucht. Dahinter ist indes ein großes Fragezeichen zu setzen. Dieses Spiel mit den Wünschen und Sehnsüchten der Stadtgründer ist in hohem Maße diabolisch und deswegen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Damit kippt auch die der Oper innewohnende Kapitalismuskritik. Das Ende der Welt ist nahe, die Beteiligten zelebrieren die Utopie des Untergangs (Programmheft S. 20) und das jüngste Gericht steht unmittelbar bevor.

Dieses lassen Pia Dederichs und Lena Schmid gekonnt in ihre Gestaltung des Bühnenraums einfließen. Als Spielfläche fungiert Michelangelos für die Sixtinische Kapelle in Rom entworfene Gemälde des Jüngsten Gerichts, das von 400 nackten Gestalten geprägt wird. Im zweiten Teil steigen einige davon aus dem Bild heraus und nehmen splitternackt an einer um zwei goldene Kälber stattfindenden Fressorgie statt. Die beteiligten Personen nehmen das Bild wahr und beginnen darüber zu reflektieren. Einige von ihnen verwandeln sich in die Menschen auf dem Bild. Gekonnt hat das Regieteam Michelangelos auf seinem Jüngsten Gericht ausgedrückte Kritik an der damaligen Gesellschaftsordnung in seine Arbeit integriert. Diese Idee, das Ganze auf einem der berühmtesten Fundamente der christlichen Kulturgeschichte spielen zu lassen, ist durchaus ansprechend, sind die Themen der Inszenierung doch die Apokalypse und das Jüngste Gericht.

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Auf diese Weise wird der von Brecht ins Libretto eingefügten christlichen Ikonographie genüge getan. Ein Kreuz gibt es ebenfalls. Die Sintflut in Form eines aus einer Regenrinne herabprasselnden starken Regens fehlt auch nicht. Der Grundgedanke von Frau Schwab besteht in einer Abrechnung mit den Menschen im Sinne einer Utopie. Über die beteiligten Personen wird ein Urteil gesprochen und ein Symbol für die Neuordnung der Welt ins Spiel gebracht. Bemerkenswert ist, dass das Bodenbild auf die gelungenen Kostüme durchschlägt. Diese haben etwas Collagenhaftes an sich. So sind Leokadja Begbick und Jenny Hill Piratenbräute (vgl. Programmbuch S. 24), die sich ihre Kleider von überall zusammengeklaut haben.

Begbick und Jenny stehen bei Ulrike Schwab im Zentrum des Geschehens. Aus ihrer Perspektive wird die Geschichte erzählt. Zu Beginn, noch während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, sitzen sie, eifrig plaudernd, vorne an der Bühnenrampe. Die beiden Frauen bilden ein Duo infernale, das von Skandalromanen wie Virginie Despentes‘ Baise-moi oder Filmen wie Thelma and Louise inspiriert ist. Sie haben in dieser Produktion die Hosen an, die Männer sind ihnen untergeordnet. Hemmungen, die Herren der Schöpfung mit ihren Revolvern kurzerhand ins Jenseits zu befördern, haben sie überhaupt nicht. Sie sind schon zwei ausgemachte, kaltblütige Verbrecherinnen. Ihre Lebensperspektiven sind erloschen und sie haben keine wirklichen Alternativen mehr. Als Utopie bleibt ihnen nur noch, sich das gesamte menschliche Geschlecht untertan zu machen und es zu unterjochen. Eine naive Grundhaltung geht hier mit einer enormen Brutalität und Radikalität einher, der die arg gebeutelten Männer nicht wirklich etwas entgegensetzen können. Sie haben den von Begbick und Jenny vorgeführten neuen Lebensentwurf vorbehaltlos zu akzeptieren oder müssen, wie Jim Mahoney, das Zeitliche segnen.

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Die Essenz von Mahagonny besteht in einer Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen. Man ist nachhaltig auf der Suche nach dem Glück und besseren Perspektiven. Den die Kapitalismuskritik symbolisierenden Taifun empfinden die Handlungsträger nicht als Bedrohung, sondern freuen sich über ihn. Auch hier wird wieder der Untergang gefeiert. Unter diesen Umständen ist das Einfließen von Brechts Epischem Theater nur natürlich. Dies ist dem Regieteam ausgezeichnet gelungen. Das Orchester sitzt zuerst unsichtbar im hinteren Teil der Bühne. Der Orchestergraben ist überdeckt und die Spielfläche reicht bis zur ersten Parkettreihe heran – und noch weiter. Die vierte Wand wird eindrucksvoll durchbrochen. Mittels eines bespielbaren Steges in das Parkett wird der Zuschauerraum in die Handlung integriert. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Brecht‘ sche Gardinen, die das Orchester verdecken. Diese hier als Utopiegestalter fungierenden Vorhänge haben nach Brecht die Funktion, die Zuschauer vom romantischen Glotzen abzuhalten und zum kritischen Nachdenken anzuregen. Das funktioniert in erster Linie glänzend bis zur Taifun-Szene. Hier werden die Brecht‘ schen Gardinen vom Sturm, genauer gesagt mit von Begbick und Jenny eingesetzten Windmaschinen fortgeweht, und das Orchester wird sichtbar. Neben dem Parkett werden auch die Seitenlogen des ersten Ranges bespielt. Im zweiten Teil wird ein Freiwilliger aus dem Publikum auf die Bühne geholt und dort symbolisch ans Kreuz geschlagen. Dann nimmt Begbick ihm noch seinen Gürtel weg. Den erhielt er später natürlich wieder. Auf diese Art und Weise kommt dem Publikum die Funktion eines Mitspielers zu. Das gesamte Opernhaus wird zur Bühne und das Auditorium zu einem Teil davon – ein hervorragendes, mit den Intentionen Brechts ganz im Einklang stehendes Regiekonzept, das der Regisseurin alle Ehre macht. Am Ende streut sie geschickt einen Funken Hoffnung in die allgemeine Trostlosigkeit. Alles in allem haben wir es hier mit einer trefflich gelungen und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebrachten Inszenierung zu tun.

Bei Dirigent Luka Hauser, der auch den Klavierpart übernommen hatte, war Weills und Brechts Oper in guten Händen. Er dirigierte locker und zügig und animierte das trefflich disponierte Staatsorchester Stuttgart zu einem intensiven und eindringlichen Spiel. Leider haben zu Beginn die Brecht‘ schen Gardinen, die die Musiker von den Blicken der Zuschauer abschirmte, den Orchesterklang etwas unvorteilhaft gedämpft. Nachdem bei der Taifun-Szene die Vorhänge gefallen waren, wurde die Situation besser und der Klang konnte sich frei entfalten.

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Ausgezeichnet waren die gesanglichen Leistungen. Mit imposantem und vorbildlich sitzendem Mezzosopran sang Alisa Kolosova eine beeindruckende Leokadja Begbick. Ida Ränzlov war eine aalglatte Jenny Hill, die wahrlich wusste, was sie will. Gesungen hat sie mit ihrem gut italienisch fokussierten und emotional geführten Mezzo-Material ebenfalls sehr ansprechend. Mit großem Elan stürzte sich Kai Kluge in die Partie des Jim Mahoney, dem er mit seinem vorbildlich gestützten und tiefgründig klingenden Tenor gesanglich voll gerecht wurde. Schauspielerisch wirkte er vielleicht etwas zu gefühlvoll. Schön im Körper sang Elmar Gilbertsson den Fatty. Mit profundem Stimmmaterial gab Joshua Bloom den Dreieinigkeitsmoses. Einen angenehmen lyrischen Bariton brachte Björn Bürger in die Rolle des Bill ein. Einen guten Eindruck hinterließ der Bassbariton von Jasper Leever als Joe. In der Doppelrolle von Jakob Schmidt und Tobby Higgins gefiel Joseph Tancredi. Eine vortreffliche Leistung erbrachte der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Fazit: Eine in jeder Beziehung gelungene Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 3. Juni 2024


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Kurt Weill und Bertolt  Brecht

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 11. Mai 2024
Besuchte Aufführung: 1. Juni 2024

Inszenierung: Ulrike Schwab
Musikalische Leitung: Luka Hauser
Staatsorchester Stuttgart