Curlew River ist die erste der drei „Kirchenparabeln“ von Benjamin Britten. Der Komponist hat darin seine Eindrücke des japanischen Nō-Theaters verarbeitet. Dessen Elemente der Ritualisierung, der Langsamkeit, die Beschränkung auf männliche Darsteller und die karge musikalische Begleitung, bei der Schlagwerk und Flöte eine prominente Rolle spielen, hat er gleichsam in einen europäisch-christlichen Kontext überführt. In Curlew River wird eine japanische Erzählung um eine Mutter, die an einem Fluss in wahnhafter Verzweiflung nach ihrem verlorenen Kind sucht, zur christlichen Heiligengeschichte transformiert.
Jede der Parabeln beginnt stets mit dem Einzug der Aufführenden in Mönchskutten unter Absingen eines unbegleiteten gregorianischen Chorals. Sodann führt ein „Abt“ in das folgende Mysterienspiel ein und gibt an dessen Ende auch eine Deutung des Erlebten ab, woraufhin die Aufführenden unter erneutem Absingen eines gregorianischen Chorals wieder ausziehen. Die Stücke haben jeweils eine Länge von etwa einer Stunde. Der ideale Ort für ihre Aufführung ist ein Kirchenschiff. Das zeigt sich auch in der Umsetzung des Stadttheaters Gießen, welches das Werk in der Johanneskirche herausgebracht hat. Regisseurin Ute M. Engelhardt hat gut daran getan, den engen Vorgaben des Komponisten auch für die szenische Umsetzung zu folgen. Vor dem Altar ist ein schlichtes Podest aufgebaut, das als Hauptspielfläche dient. Immer wieder wird der Kirchenraum von Choristen und Solisten langsam durchschritten, wodurch sich reizvolle Raumklangeffekte ergeben. Aktionen bleiben ritualisiert und werden nur mit wenigen, dafür umso wirkungsvolleren Akzenten belebt, etwa mit stilisierten Vögeln, die über Schnüre an Stäben aufgehängt langsam über den Köpfen der Zuschauer kreisen.
Die Besetzung wird von tiefen Stimmen dominiert. Die dafür eingesetzten Solisten unterscheiden sich reizvoll in ihrem Timbre: Clarke Ruth mit seinem schwarzen und doch schlanken Baßbariton als Abt, sein Ensemblekollege Grga Peroš mit saftiger, fülliger Stimme als Reisender und als Gast Ronan Collett, der dem Fährmann mit kernig-virilem Bariton angemessene Handfestigkeit verleiht. In der Frauenrolle der Verrückten, die Britten für seinen Lebensgefährten Peter Pears geschrieben hat, gelingt es Ferdinand Keller mit seinem lyrischen Tenor, die Verzweiflung einer Mutter über den Verlust des eigenen Kindes emotional glaubwürdig zu vermitteln, ohne dabei in Sentimentalität zu verfallen. Klar und präzise setzen die sechs begleitenden Instrumentalisten des Philharmonischen Orchesters Gießen Brittens herb ausgedünnte Partitur um, mit dezenter Gestik von Generalmusikdirektor Andreas Schüller an der Orgel angeleitet.
Diese sehr dichte, in ihrer ritualisierten Strenge den Kern genau treffende Umsetzung von Brittens Werk ist eingebettet in ein Theaterexperiment. Anstatt das einstündige Stück mit einer weiteren Kirchenparabel oder einer anderen Kurzoper auf gewohnte Aufführungslängen zu bringen, hat das Stadttheater Gießen in Koproduktion mit dem Theater Aachen ein korrespondierendes Werk bei der Komponistin Cymin Samawatie in Auftrag gegeben. „Curlew Love“ nennt sie es. Spiegelbildlich zu Brittens Werk für Männerstimmen ist es ausschließlich für Frauenstimmen komponiert, und spiegelbildlich zur schicksalhaft verwehrten Sorge einer Mutter um das verlorene Kind, sind es nun Väter, die sich sorgend ihrer Kinder annehmen. Der Musik hört man an, daß die Komponistin im Jazz zu Hause ist. Für die gut disponierten Frauenstimmen des Gießener Opernchors hat sie atmosphärisch lichte Klänge geschrieben, einen soften New-Classics-Soundtrack, der reizvoll mit Jazz-Harmonik gewürzt ist. Ohne eigentliche Handlung und damit ohne die Notwendigkeit einer szenischen Umsetzung wird das Stück konzertant gegeben. Die Musik rieselt einfach auf das in den Kirchenbänken sitzende Publikum von der Empore herunter wie ein sanfter, warmer Sommerregen. Nach diesem akustischen Wellness-Bad wirkt Brittens strenge, karge Komposition noch archaischer, aber gegenüber dem wohlmeinend-harmlosen Vorspiel auch ungleich stärker.
Bevor sich das Publikum jedoch von Cymin Samawaties Wohlfühlsound berieseln lassen kann, muß es einen Hörspaziergang quer durch die Innenstadt absolvieren. Dazu werden Funkkopfhörer ausgegeben. In sehr guter Tonqualität und erstaunlich störungsfrei schlüpft ein Erzähler in die Rolle eines Vogelschützers und führt die Zuhörer auf eine frühmorgendliche Expedition zu den Brutstätten der Brachvögel, auf Englisch „Curlew“. Da ist dann viel von Fürsorge und Achtsamkeit die Rede. Die Texte streifen immer wieder die Grenze zum Öko-Kitsch. Natürlich wird die Theatergemeinde korrekt als „Ornitholog-innen“ mit Gender-Schluckauf angesprochen.
Am Ende zeigt sich, daß der öko-achtsam-woke Spaziergang Brittens starke Komposition weder ergänzen noch vertiefen kann und auch die hübschen Klänge von „Curlew Love“ nicht mehr als eine musikalische Harmlosigkeit zur Einstimmung auf das Hauptwerk sind. Für die eindrucksvolle Umsetzung von Brittens selten gespieltem Werk am adäquaten Aufführungsort hat sich die Mühe aber unbedingt gelohnt.
Michael Demel, 20. Juli 2024
Cymin Samawatie: Curlew Love
Benjamin Britten: Curlew River
Stadttheater Gießen
in der Johanneskirche
Aufführung am 6. Juli 2024
Premiere am 5. Juli 2024
Inszenierung: Ute M. Engelhardt
Musikalische Leitung: Andreas Schüller
Chor und Instrumentalisten des Stadttheates Gießen