Um das Fazit vorwegzunehmen: Bei dieser jüngst bei dem Label Unitel erschienenen DVD von Bohuslav Martinůs Oper The Greek Passion, zu Deutsch Die griechische Passion, handelt es sich trotz einiger kleiner Einschränkungen auf der gesanglichen Seite – dazu später – um eine sehr empfehlenswerte Angelegenheit. Was auf der Bühne der Felsenreitschule der Salzburger Festspiele, wo die Aufnahme im August letzten Jahres entstand, vor sich geht, ist hochspannendes und mitreißendes Musiktheater, das die Anschaffung allemal lohnt! Hier haben wir es mit einer echten Rarität zu tun! Martinů, von dem auch das Libretto stammt, stellte das Werk 1959, kurz vor seinem Tod, fertig. Die posthume Uraufführung in der englischen Originalsprache erfolgte zwei Jahre später an der Züricher Oper unter der musikalischen Leitung von Martinůs Freund und Mäzen Paul Sacher. Der große Erfolg dieser ersten Produktion bewirkte, dass auch andere Bühnen auf die Greek Passion aufmerksam wurden und es zu weiteren Inszenierungen in Europa und den USA kam.
Angesichts des Raritätencharakters der Oper, die auf dem Roman Christus wird wiedergekreuzigt von Nikos Kazantzakis beruht, seien mir einige Worte zum Inhalt erlaubt: In einem griechischen Dorf ist kurz vor dem Osterfest ein Passionspiel geplant. Der Priester Grigoris verteilt die Rollen an die Einwohner. Unter anderem soll der Hirte Manolios den Jesus und die in einem nicht so guten Leumund stehende Katerina die Maria Magdalena spielen. In diese Prozedur platzt aus heiterem Himmel eine Reihe von Flüchtlingen unter der Führung des Priesters Fotis, die von Türken aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, und bittet um Aufnahme. Im Folgenden stößt ihr Anliegen bei den Einwohnern des Dorfes größtenteils auf Ablehnung. Nur einige wenige, unter ihnen Manolios und Katerina, stellen sich auf die Seite der Flüchtlinge. Immer stärker identifizieren sich die Darsteller von Jesus und den Aposteln mit ihren Rollen, was sie bei ihren Mitbürgern in Kritik bringt. Zu Manolios‘ stärkstem Gegner wird ausgerechnet Grigoris. Dieser exkommuniziert den Hirten nicht nur, sondern hat auch zu verantworten, dass dieser am Ende von Panais, dem Judas-Darsteller, und einigen anderen getötet wird. Angesichts dieses Verbrechens ziehen die Flüchtlinge weiter. In einem Dorf, in dem um ihretwillen ein Mord geschehen ist, können sie nicht länger bleiben.
Bei der Greek Passion handelt es sich um ein im wahrsten Sinn des Wortes ungemein starkes Stück, das viele Parallelen zur christlichen Passion aufweist und von Regisseur Simon Stone mit Bravour auf die Bühne der Felsenreitschule gebracht wird. Ihm zur Seite stehen Lizzie Clachan (Bühnenbild) und Mel Page (Kostüme). Das Regieteam verzichtet auf eine konkrete Verortung des dramatischen Geschehens und siedelt das Ganze vielmehr in einem abstrakten Rahmen an. Die Handlung spielt sich in einem simplen grauen Kasten ab. Auch die oberste Arkadenreihe der Felsenreitschule – die anderen sind überbaut – sowie in trefflicher Anwendung eines Brecht‘ schen Elementes der Zuschauerraum werden in das Spiel mit einbezogen. Auf- und Abgänge erfolgen durch Türen und Fenster sowie durch Bodenluken. In einem der Fenster erscheint auch mal ein Akkordeon-Spieler. Frau Page hat die Bewohner des griechischen Dorfes in karge graue Kleider gehüllt, die Flüchtlinge dagegen bunt ausgestattet. Letztere führen Rucksäcke, Zelte und Schwimmwesten mit sich. Ihr Fluchtweg hat sie offenbar über das Meer geführt. In diesem sehr spartanischen Ambiente stellt Stone gekonnt Parallelen zu den heutigen Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine her. Zudem thematisiert er gekonnt das Thema der Ablehnung von Fremdem und Andersgeartetem und plädiert nachhaltig für Toleranz und Hilfsbereitschaft. Das gelingt ihm ausgezeichnet. Zudem versteht es Stone hervorragend, das Werk in ein modernes Ambiente zu stellen, ohne dabei seinen Inhalt zu verfremden. Seine Personenregie ist sehr ausgeprägt und intensiv. Nicht nur mit den Solisten arbeitet er vortrefflich, auch die riesigen Chöre versteht er vorbildlich zu führen. Alles wirkt wie aus einem Guss, Leerläufe stellen sich an keiner Stelle ein. Das Ende ist zusätzlich zum Tod von Manolios auch allgemein recht pessimistisch. Auf der hinteren Bühnenwand prangt in großen Lettern die Schrift Refugees out, zu Deutsch Flüchtlinge raus. Den Flüchtlingen wird so jede Hoffnung genommen. Gänzlich desillusioniert und resigniert verlassen sie die Bühne durch das Parkett. Das, was sie soeben miterlebt haben, vermögen sie nur schwer zu verarbeiten. Traumabewältigung heißt das Stichwort. Hier spielt zum Schluss noch ein wenig Sigmund Freud mit. Diese zeitgenössische, aber dennoch werktreue Inszenierung ist in hohem Maße gelungen!
Auch Martinůs Musik ist ausgesprochen ansprechend. Schräge Töne vernimmt man an keiner Stelle. Der Klangteppich ist gänzlich tonal gehalten und weist zahlreiche Anklänge an griechische Volksmusik, griechisch-orthodoxe Sakralmusik und mährische Weisen auf. Martinůs Kompositionsweise ist ungemein vielschichtig. Bei Manolios, Katerina und Lenio findet der Komponist teilweise zu innigen lyrischen Klängen. Bei den gewaltigen Chören bringt er dagegen auch sehr markante Töne mit ins Spiel. Dies ist eine Musik, die recht eingehend ist und ungemein berührt. Sie wird von dem jungen Dirigenten Maxime Pascal und den bestens disponierten Wiener Philharmonikern spannungsgeladen, ausdrucksstark und sehr emotional vor den Ohren des begeisterten Publikums ausgebreitet.
Nun zu den Sängern: Sebastian Kohlhepp ist als Manolios auf eine sehr gefühlvolle Auslotung seiner dankbaren Rolle bedacht, singt aber leider zu stark in der Maske. Ebenfalls ohne die nötige Körperstütze seines Tenors gibt Charles Workman den Yannakos. Eine sowohl darstellerisch als auch gesanglich sehr charismatische Katerina ist die voll und rund singende Sara Jakubiak. In Nichts nach steht ihr ihre kraftvoll und ebenmäßig intonierende Soprankollegin Christina Gansch in der Partie der Lenio. Mit brisantem Bass-Bariton lotet Gabor Bretz perfekt sämtliche Facetten des Priesters Grigoris aus. Lukasz Golinski gibt dem Priester Fotis vokal einen sonoren und tiefgründigen Anstrich. Gut gefällt Matteo Ivan Rasics vollstimmiger Andonis. Ein prachtvoll klingender Patriarcheas ist Luke Stoker. Arg ist es um Matthäus Schmidlechnerssehr dünnstimmigen Michelis bestellt. Helena Rasker und Scott Wilde machen mit ihren gut fokussierten Stimmen aus den kleinen Rollen der alten Frau und des alten Mannes viel. Auch von Teona Toduas Despinio hätte man gerne mehr gehört. Solide Leistungen erbringen Alejandro Balinas Vieites (Kostandis), Julian Hubbard (Panais) und Aljoscha Lennert (Nikolia). Die Sprechrolle des Ladas ist bei Robert Dölle in bewährten Händen. Die von Huw Rhys James einstudierte Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor sowie der von Wolfgang Götz vorbereitete Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor legen sich mächtig ins Zeug und vermögen vollauf zu überzeugen.
Ludwig Steinbach, 24. August 2024
DVD: The Greek Passion
Bohuslav Martinů
Salzburger Festspiele 2023
Inszenierung: Simon Stone
Musikalische Leitung: Maxime Pascal
Unitel
Best.Nr.: 811008
1 DVD