„Eine gewaltige Wagnersche Kantate…, eröffnet mit einem Dampfbad in Es-Dur“ – so charakterisiert der Musikwissenschaftler Alex Ross die Gurre-Lieder von Arnold Schönberg. In der Tat steckt viel Wagner in diesem Riesen-Opus, sowohl in der Verwendung von Leitmotiven als auch vom orchestralen Klang her, auch Richard Strauss´ Harmonik darf man assoziieren. Dennoch ist das Werk völlig eigenständig und vor allem in der fülligen Besetzung mit Riesenorchester, Solisten und drei Chören schon in den Dimensionen absolut maßstabsetzend und Grenzen-auslotend; Schönberg stellte die Komposition 1903, also drei Jahre vor Mahlers 8. Symphonie, die ja ein ganzes Universum abbildet, nahezu fertig.
In der glanzvollen Wiedergabe zwei Tage vor dem 150. Geburtstag des Komponisten im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie nun waren 285 Mitwirkende zu erleben, die einen Schönberg wiedergaben, der sich in aller goldglänzenden Wiener Spätromantik entfaltet, noch jenseits aller dodekaphonischen Atonalität. Bereits in seiner launigen Einführung prophezeite Dramaturg Julius Heil begeisterte Gespräche in der Pause über die wunderbare Eingängigkeit dieses frühen Schönberg. Dennoch hatten sich gerade bei diesem Saison-Eröffnungsabend zahlreiche potentielle Konzertbesucher vom mit Sprödigkeit und Unzugänglichkeit verbundenen Namen des Komponisten abschrecken lassen – erstaunlich viele Plätze blieben leer.
Der spätere Schönberg wäre damit völlig einverstanden gewesen, denn der schrieb ja nach eigenem Bekunden keine „schöne Musik“. Aber auch der – das sei schon jetzt gesagt – begeisterte und langanhaltende Applaus eines ansonsten für die „Elphi“ erstaunlich disziplinierten Publikums wäre ihm schon zuviel gewesen. Legendär ist seine Verbeugung vor dem Klangkörper nach der Uraufführung und die kalte Schulter für das begeisterte Publikum, „das Seltsamste, was ein Mensch vor einer hysterisch bewundernden Menge je getan hat!“, so der Violinist Francis Aranyi nach der Uraufführung am 23. September 1913 in Wien.
Sei´s drum – die Gurre-Lieder nur als „schön“ zu bezeichnen, wäre eine maßlose Untertreibung, denn diese Vertonung der Dichtung des dänischen Schriftstellers Jens Peter Jacobsen über die tragische Liebesgeschichte des mittelalterlichen dänischen Königs Waldemar und seiner Geliebten Tove auf Burg Gurre ist gewaltig, aufrüttelnd, voller überraschender Brechungen und schließlich von erhabener Größe. Ist es eine Kantate, eine konzertante Oper, ein Oratorium? Um es mit aller Unschärfe, aber doch treffend zu umreißen – die Gurre-Lieder sind ein Ereignis von monumentaler Kraft.
Dem wurde das NDR Elbphilharmonie-Orchester unter seinem Chefdirigenten Alan Gilbert ohne jeden Zweifel gerecht, denn die Hamburger malten diesen musikalischen Gemäldezyklus mit seinen flirrend-pulsierenden Naturbildern, den Darstellungen von Liebe und Leidenschaft, den Schilderungen von des Königs Hybris und Gottes-Schelte, der Tragik von Leid und Tod, der schaurigen Düsternis einer verfluchten und daher ruhelos schweifenden Schar und schließlich der Erlösung im Sonnenglast mit pastos aufgetragenen, aber stets voneinander unterscheidbaren Farben auf einer Klang-Leinwand, die keinen engenden Rahmen erlaubt. Trotz des gewaltigen Apparats drangen die einzelnen Instrumente bzw. Gruppen differenziert heraus, für den agilen Gilbert mit vollem Körpereinsatz und höllisch anspruchsvollen Einsatzwechseln eine echte, aber brillant gemeisterte Herausforderung.
Über die Aspekte, die Jacobsen hier verarbeitet hat, ließe sich ein ganzes Seminar abhalten, denn synkretistisch vermengen sich hier Christentum und germanische Götterwelt, des Königs wilde Jagd in unerlöster Rastlosigkeit erinnert an Wotans Reiterhorde der Rauhnächte und Wagners Fliegenden Holländer zugleich, und Gotteslästerung ist auch bei dem größten Philosophen Dänemarks, Sören Kierkegaard, ein zentrales Thema, ja ein Schlüssel zu Mensch und Werk.
Das Libretto in der Übersetzung von Robert Franz Arnold ist voller Anmut und Größe; viele der Verse, wie „Denn all meine Rosen küßt´ ich zu Tod, dieweil ich deiner gedacht“ oder „Das Leben kommt mit Macht und Glanz, mit Taten und pochenden Herzen“ eignen sich als Zitate für prangende Titel einer würdigenden Besprechung. Zusätzlich zum Abdruck im Programmheft wurde der Text auch im Saal projiziert, was ausgesprochen hilfreich war. Die Plazierung der Solisten mitten in die Musiker hinein ist in der „Elphi“ fast unumgänglich, weil der Saal ja rundum bespielt wird, aber die Stimmen gehen immer wieder im Orchesterklang unter, zumal bei einem solchen Riesen-Klangkörper mit wuchtigen Tutti-Stellen.
So hatten Simon O´Neill als König Waldemar und Christina Nilsson als Tove zuweilen Mühe, sich gegen das machtvolle Orchester durchzusetzen. In den Höhen schwebten Tenor- und Sopranstimme allerdings wie Vögel über dem Klangbett. Jamie Bartons Waldtaube drang mit ihrem satten Mezzosopran problemlos durch und dominierte durchweg mit großartigem Volumen eher adlergleich den Saal, zudem war das Textverständnis ausgezeichnet.
Das traf auch auf Michael Nagy als Bauer zu, wenngleich sein warmer Bariton wiederum in den orchestral eher reduzierten Abschnitten glänzte. Michael Schades Narr nahm sich die buchstäbliche Freiheit und mit gekonntem Parlando-Spiel variierte er den Text abwechslungsreich; es gibt einige Piano-Stellen in der Partitur, die dem Tenor die Möglichkeit geben, auch mezza voce noch verständlich und gut hörbar zu bleiben.
Viele waren sicher gespannt darauf, wie Thomas Quasthoff, einstmals gefeierter Baßbariton, der lange Jahre kaum in der Öffentlichkeit aufgetreten war, den Part des Sprechers gestalten würde. Aufgrund der Sprechrolle durch ein Mikrophon verstärkt, dröhnte seine volle, tiefe Stimme durch den großen Saal; man hätte ihm aber auch zugetraut, daß er das ohne technische Unterstützung geschafft hätte. Der deklamatorische Duktus mag heute etwas altbacken klingen, fügt sich aber metrisch harmonisch in die Musik. Allerdings hätte Quasthoff sich und dem Publikum etwas mehr Wärme gestatten dürfen, über die seine Stimme ja zweifellos verfügt. Den Text gestaltete er etwas frei, was aber nichts tat; ob Bäume oder Blumen – das ergab insgesamt ein großangelegtes Naturbild mit den in der Dichtung vorgegebenen, bewußt naiv gehaltenen Schnecken und Marienkäferlein. In der Diskrepanz zur existentiellen Härte und der gruseligen nächtlichen Jagd mit den vermodernden Leichen (es wird mit echten Ketten gerasselt!) funktioniert das bei Schönberg genausogut wie bei Gustav Mahler mit seinen neobarocken Engelein und den welterschütternden Katastrophen.
Gewaltiges Finale – es gibt in der Musikliteratur drei große Hymnen an die Sonne und jede ist auf ihre Art unvergleichlich, wie ein jeglicher Sonnenaufgang für sich steht und stets eine ganz neue Erde segnet. Das jüngste Beispiel ist der Sonnengesang des Echnaton aus der gleichnamigen Oper von Philip Glass aus dem Jahre 1984 mit seinem erhabenen Gebet an den All-Einen, davor erstrahlte der Sonnenaufgang in der Alpensymphonie von Richard Strauss über den majestätischen Bergen. Tatsächlich aber kommt dem Erscheinen der Sonne ganz am Ende der Gurre-Lieder der Rang einer Initiation zu, was die künstlerische Rezeption desjenigen Gestirns, das irdisches Leben erst ermöglicht, betrifft.
Hatte der Männerchor die Mannen Waldemars zuvor bereits in gespenstischer Stärke zum Halbleben der Untoten erweckt, so zelebrierten nun der MDR-Rundfunkchor, der Rundfunkchor Berlin unter Michael Alber und das NDR Vokalensemble, geleitet von Klaas Stock, in den bedauerlich kurzen fünf Minuten des Finales mit allen Damen- und Herrenstimmen das Aufstrahlen der Sonne in feierlichstem Glanz und goldstrahlendem Fortissimo.
In der Einführung war offengelassen worden, ob dieser Sonnenaufgang tatsächlich all das Leid und die Trauer verbleichen lassen und den von Gott verfluchten König von seiner Sünde erlösen würde, aber jeder, der sich einmal mit eschatologischen, also endzeitlichen Theologie-Aspekten befaßt hat, weiß: Hier erhebt sich mit göttlicher Majestät der Jüngste Tag und in dieser Deutung gibt es keine Scheidung in Erlösung und Verdammnis. Der „Morgentraum…aus den Fluten der Nacht“ eröffnet die Tore des Himmels und die allsegnende Gottheit-Sonne schafft ein Leben, das nicht mehr endet; es erstrahlt in Ewigkeit das lächelnde Vergeben und die gnadengebende Liebe.
Andreas Ströbl, 12. September 2024
Arnold Schönberg: Gurre-Lieder für Soli, Chöre und Orchester
Großer Saal der Elbphilharmonie, Hamburg
11. September 2024
Musikalische Leitung: Alan Gilbert
NDR Elbphilharmonie Orchester
PS: An dieser Stelle sei einmal sehr herzlich der Presseabteilung von Elbphilharmonie/Laeiszhalle und Hamburg-Musik gedankt. Als Musikjournalist hat man in manchen Häusern seine liebe Not mit nicht oder spät beantworteten Anfragen bzw. der Hybris von Kultstätten-Vertretern, die es nicht nötig haben, auf jede Anfrage zu reagieren, die aber doch auch dem jeweiligen Konzertsaal oder der entsprechenden Bühne dienen möchte. In Hamburg bekommt man stets rasch, unkompliziert und freundlich Antwort und wenn es irgend möglich ist, werden Kartenwünsche für die Besprechungen möglich gemacht – auch, wenn die Veranstaltungen sehr gefragt sind. Vielen lieben Dank also für diese angenehme Zusammenarbeit!