München: „Mazeppa“, Peter Tschaikowsky

© Aylin Kaip

Das Ende ist fast wie der Anfang. Es ist ein Coup.

Die Mädchen winden sich einen „hübschen Kranz“, Frühling liegt in der Luft, sie schreiten die gewaltige Treppe hinunter. Im Finale werden sie noch einmal auftreten, himmlisch singend, bevor sie die Treppe wieder hinaufgehen – doch nun ist ihr Gesang zu einem Trauerstück geworden. So steht es nicht bei Tschaikowsky – aber so ist es gut.

Also Mazeppa von Tschaikowsky. Unter den zehn Opern des Russen ist dies eine der bei uns unbekannten, so dass es einem Opernfreund kaum auffallen mag, dass die Fassung, die die Münchner Operntruppe Opera Incognita erstellt hat, auch in Sachen Chor die kaum zufällige Symmetrie des Werks noch verstärkt hat, indem zunächst ein Duett, dann die Ouvertüre, dann erst der Mädchenchor erklingt, der am Ende – hier und nicht bei Tschaikowsky – seinen traurigen Widerhall findet. Himmlisch singend? Ja, denn die weithallige Akustik des Lichthofs der Ludwig-Maximilian-Universität erinnert an die Klangverhältnisse in einer sehr großen Kathedrale. Der Effekt ist einfach überwältigend; dass das erste und letzte Duett klanglich problematisch ausfällt, weil man beim Sopran eher Vokalisen als Worte hört, verschlägt da nichts. Und wenn die Besucher von den singenden Chorfrauen in den Hörsaal geleitet werden, in dem der größte Teil der Oper stattfindet, befindet man sich in einem Raum-Zeit-Opern-Kontinuum, das zauberhafter nicht sein könnte. Wie gesagt: Wie im Himmel; so heißt ja auch ein berühmter Film, in dem am Ende ein gewaltiger, aus Hunderten von Stimmen bestehender Chor wundersame Harmonien improvisiert (https://www.youtube.com/watch?v=X95Yf_MhR2I). Das absolute Ende aber ist, an diesem Ort, gespenstisch. Geheimdienstleute werfen, abgehend, die Manuskripte eines verhafteten Dozenten auf den Boden, der es gewagt hat, öffentlich gegen die herrschende politische Leitlinie zu sprechen.

© Aylin Kaip

Eine Oper in einem Hörsaal? Es funktioniert, weil sie wissen, was sie tun. Opera incognita hat sich darauf spezialisiert, unbekannte Opern bekannter Komponisten an Orten aufzuführen, an denen sie besonders gut hinpassen. Wagners Liebesverbot fand im Sugar Mountain statt, in der man besonders gut abtanzen kann, Phil Glass’ Akhnaten im Ägyptischen Museum, die Poppea in einem Schwimmbad – und nun eben der Mazeppa in einer Universität. Es ist dies nicht irgendeine Alma Mater, sondern just jener Bau, in dem die unfassbar mutigen Mitglieder der Weiße Rose kurz vor Ende des 2. Weltkriegs ihre Flugblätter in den Lichthof warfen. Mazeppa ist, so heißt es allenthalben, ein Werk, in dem die (private) Liebesgeschichte wichtiger ist als die (öffentliche) politisch-historische Handlung, weil Ersteres dem Komponisten näher stand. Tatsächlich muss man nichts umdeuten, um darauf zu kommen, dass Mazeppa, wie eine gute Grand Opéra, zwei Kerne besitzt, die miteinander verschmolzen sind. Die Liebesbeziehung der jungen Maria zum aufrührerischen alten Kosakenhetman, der gegen Peter „den Großen“ agiert, um sein Land aus der Abhängigkeit von Russland zu führen, diese Beziehung ist untrennbar mit der historisch bezeugten, militärischen wie territorialpolitischen Katastrophe verbunden. Also erläutert uns – noch so ein Coup – während der im Hörsaal A 030, dem größten Hörsaal der LMU, nachgereichten Ouvertüre und noch später ein Dozent (Helmut Bayerer) die Grundzüge der russisch-ukrainischen Geschichte von 1667 bis 1991, dem Jahr der staatlichen ukrainischen Unabhängigkeit, und zur Gegenwart. Er doziert auch über den Hopak, den nationalen ukrainischen Tanz, während eben dieser erklingt und die Choristen zum bewegungslos tanzenden Standbild erstarren. Die Idee ist einfach – und sehr gut; später wird, das ist dramaturgisch möglich, der betrunkene Kosak gestrichen, aber das ist schon alles an Kürzungen. Der Chor, der bedeutende Teile der Oper grundiert und die Mussorgskysche Linie des Volksgesangs auf dramatische Weise weiterführt, ist überhaupt grandios. Manch Stadttheater dürfte die Opera Incognita um die 32 Sänger beneiden. Vergegenwärtigt man sich, dass nach den wochenlangen Proben nur fünf Aufführungen des Mazeppa möglich waren, ahnt man, welch Idealismus (und Kompetenz) hinter den künstlerischen Leistungen steckt, die sich nicht allein auf den Regisseur Andreas Wiedermann und den musikalischen Bearbeiter / Dirigenten Ernst Bartmann, den Gründern des Unternehmens, nicht zuletzt auf das Dutzend Instrumentalisten bezieht. Kleine Oper, ganz groß? Nein: Große Oper, ganz groß.

© Aylin Kaip

Dafür bürgt schon die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der die beiden Räume – der Lichthof und der Hörsaal – bespielt werden. Man ist hier gleichsam Zeuge einer Geschichtsstunde, die von einem Lehrer veranstaltet wird, der in jenem Moment abgeführt wird, in dem er die Freiheit der Ukraine betont. Kurz vor dem Finale wird er, offensichtlich nach einem „Gespräch“ mit der Staatsmacht, wider eigenes Wissen, prorussische Propagandasätze und den „Triumph“ Sowjetrusslands ab 1917 zum Besten geben und die Namen Dschingis Khans, Iwans des Schrecklichen und Peters „des Großen“ auf die Tafel schreiben, dann rebellieren, dann zum letzten Mal abgeführt werden. Das ist, zugegeben, nicht besonders subtil, spiegelt aber den geistigen Zustand all jener russischen Historiker wider, die der Mythologie eines „Heiligen Russland“ behaupten und die imperialistischen Bestrebungen der Diktatur, die ein Russland in den Grenzen eines mythisierten Mittelalters erobern will, ideologisch untermauern. Dies nur als Sachhinweis für alle Freunde der Idee einer ukrainischen Kapitulation. So betrachtet, ist Mazeppa, komponiert von einem großen nationalistischen wie übernational denkenden Musiker, kein Stück über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft. Das exzellente Programmheft, in dem sowohl die historische wie die Geschichte der Ukraine wie die tief im Inneren des russischen Denkens basierende Sehnsucht nach einem Großrussland ausführlich erzählt wird, macht klar, dass Mazeppa nicht als kulinarisches Historiendrama konsumiert werden kann. Die Inszenierung vermittelt also die Konflikte, die in den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine mündeten; im von Aylin Kaip eingerichteten Hörsaal werden Freiheitsfahnen geschwenkt, nach der Pause schauen wir auf Stuhlreihen, die den Krieg erlebt haben, ein Adeliger wird im kleinen Gelaß neben der Hörsaal-Technik gefoltert und in seiner letzten Stunde an einem viele Meter langen Seil durch den Gang geführt (das sind so Bilder, die haften bleiben), ein Hetman entrollt eine Landkarte, auf dem seine Vision eines freien Heimatlands verzeichnet ist, dessen Geschichte irgendwann lange vor dieser Zeit begann.

All diese Interpretationen, die im gleichsam natürlichen Bühnenbild zur szenisch-politischen Aussage werden, wären sinnlos, würde die Opera Incognita nicht über ein glänzendes Ensemble verfügen. Von den 12 Instrumentalisten war schon die Rede. Fünf Streicher, die zu Beginn und am Ende allein spielen, sitzen neben sechs Bläsern und einem Schlagzeuger. Kammermusik trifft auf den vollen, für den Hörsaal völlig ausreichenden Orchesterklang. Noch die kleinste Rolle wurde ausgezeichnet besetzt. Carolin Ritter spielt die Mutter der Maria, Kotschubeijs Frau, deren Mezzosopran wohltuend in die Ohren dringt. Sie hat nur eine Szene – aber die kann für das Ganze einstehen. Florian Dengler singt Orlik, Mazeppas Vertrauten, den Folterer Katschubejs, also fast (fast!) eine Wurzen, aber auch er macht dies vokal überzeugend. Kotschubej ist der phänomenale Brasilianer Robson Bueno Tavares, der einen schier „russischen“, oder anders: slawischen Bass sein eigen nennt. Kein Zweifel: Würde für die beste, packendste, ergreifendste Rollengestaltung ein Publikumspreis verliehen werden, Tavares bekäme ihn. Er verfügt, schrieb ich anlässlich seines Friedrich im Münchner Liebesverbot, über einen Bass, mit dem er irgendwann den Boris singen könnte. Ich warte darauf… Und Ekaterina Isachenko war schon als Isabella mit ihrer ausgewogenen Höhe und dem Volumen ihrer Stimme ein kleines Sopranwunder. Hier ist sie die Maria, die, wie so oft bei Tschaikowsky, leidende Frau, die am Ende noch eine bewegende Wahnsinnsszene hat. Wiegenlieder für tote Freunde können ja so traurig klingen. Andrej, der Tenor, der drei prägnante Stellen hat, ist bei Karo Khachatryan ein heldisch und intelligent artikulierender Mann, dem bis zum letalen Zusammenbruch in der Gegenwart der Frau, die vergeblich liebte, lagrimoso-Töne so wenig fremd sind wie ekstatische Expressionen. Die Hauptrolle aber wird gesungen von Torsten Petsch, der, man glaubt es kaum, in seinem bürgerlichen Leben als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche sowie als Universitätsdozent für Coaching und Beratung tätig ist. Vor 25 Jahren begann er eine Gesangsausbildung, deren Früchte er längst geerntet hat, denn sein Charakterbariton ist schlicht und einfach rollendeckend: nicht allein beim Arioso „O Maria“, nicht allein im großen, latent verzweifelten Liebesduett. Zuletzt muss noch einmal der Chor genannt werden, der von der Mädchenkranzwindeszene bis zum Gebet beim Hinrichtungszug ausschließlich stimmsicher und -schön artikuliert. Schon dieser Klang ist, auch ohne den Lichthofhall, ein Ereignis.

© Aylin Kaip

Der Witz ist am Ende der, dass der Komponist, zusammen mit seinem Co-Librettisten Viktor Burenin, ausnahmslos jeder Figur seiner Oper Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er nahm, selbst als russischer Patriot, keine Partei für irgendeine Seite, betrachtete die tragischen Familien- und Landesverhältnisse eher mit Trauer – und schenkte seinen Figuren eine dramatisch aufwühlende (Kotschubeijs Folter- und Hinrichtungsszene) wie lyrisch beseelte (Mazeppas und Marias Duett) Musik. Die Inszenierung vermittelt dabei zwischen Tschaikowskys Vergangenheit und einer fatalen Gegenwart, in der die Musikdramaturgie den Krieg Russlands gegen die Ukraine ästhetisiert, in die historischen Dimensionen rückt und zugleichend beklemmend nahe bringt. So, genau so, denkt sich der Freund des gescholtenen „Regietheaters“, muss eine moderne Interpretation des Mazeppa aussehen: Im Licht unserer Erfahrung, wie Thomas Mann gesagt hätte. Sie muss aber auch so klingen.

Wie der himmlische Chor der kranzwindenden Mädchen, der zuletzt, unter dem zarten Blaulicht des Tonnengewölbes, zu einem tief bewegenden Trauergesang wird. Riesenbeifall also nach der leider schon letzten, meisterhaften Aufführung.

Frank Piontek, 17. September 2024


Mazeppa
Peter Tschaikowsky

Opera Incognita in der LMU, München

Premiere: 31. August 2024
Besuchte Aufführung: 14. September 2024

Musikalische Leitung: Ernst Bartmann
Orchester und Chor der Opera Incognita