Wiesbaden: „Le Grand Macabre“, György Ligeti

György Ligetis Anti-Anti-Oper Le Grand Macabre aus dem Jahr 1978 erlebt gerade eine erstaunliche Renaissance. Vor elf Monaten brachten die Oper Frankfurt und die Staatsoper Wien nahezu zeitgleich Neuproduktionen heraus, es folgte zum Ende der zurückliegenden Spielzeit die Bayerische Staatsoper. Eine Spielzeiteröffnung mit diesem wohl schrillsten Erzeugnis des zeitgenössischen Musiktheaters hätte man vor wenigen Jahren noch als „mutig“ bezeichnet. Nun erscheint es fast als Mainstream.

Die Herausforderungen des Stückes sind dabei enorm. Neben der elaborierten Partitur betrifft das vor allem die szenische Umsetzung. Denn, so hat es der Regisseur Vasily Barkhatov anläßlich der Frankfurter Produktion auf den Punkt gebracht: Das Libretto zu György Ligetis einziger Oper ist schlecht gealtert. Die Anspielungen auf Theaterkonventionen und politische Hintergründe der 1970er Jahre sind einem heutigen Publikum unverständlich und – ehrlich gesagt – auch irrelevant, vor allem aber wirkt der durchgehend drastisch-zotige Humor mitunter aufgesetzt und altherrenhaft.

© Sandra Then

Die eigentliche Handlung geht so: Auf einem Friedhof entsteigt aus einem Grab Nekrotzar und verkündet den Weltuntergang, den er selbst durch einen Kometeneinschlag herbeiführen will. Ein Liebespaar nimmt das zum Anlaß, das freigewordene Grab für ausgiebigen Sex zu nutzen. Nekrotzar findet auf dem Weg zum Palast des Fürsten Go-Go den Säufer Piet vom Faß und den von seiner Frau mit sadistischen Sexspielen gequälten Hofastrologen Astradamors als Weggefährten. Im Palast verkündet er das Ende der Welt, besäuft sich aber derart, daß er zum vorgesehenen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist, das Zerstörungswerk zu vollbringen. Das Ganze spielt in „Breughelland“, einem fiktiven und grotesk verzerrten Pseudo-Mittelalter.

Von alldem ist in Wiesbaden nun kaum etwas zu sehen. Vielmehr löst das Produktionsteam um Regisseurin Pinar Karabulut die szenischen Zumutungen dadurch, daß sie diese beinahe ganz wegläßt. Das Stück wird gleichsam halbszenisch gegeben. Den hinteren Teil der Bühne nimmt das Orchester ein. Auf dem vorderen Teil samt Orchestergraben hat Jo Schramm eine riesige Scheibe als Spielfläche aufgebaut. Über allem schwebt ein gewaltiger Trichter, aus dem Nekrotzar heraus- und später wieder abtritt und durch den schließlich in einem sehenswerten Effekt der angeblich weltzerstörende Komet gepresst wird, um als leere Hülle wie ein schlapper Ballon in sich zusammenzufallen. Die Protagonisten treten in knallbunten Kostümen (Teresa Vergho) wie in einer Nummern-Revue auf die Scheibe und vollführen Micky-Mousing: Man bewegt sich illustrativ zum Rhythmus und den Knalleffekten der Musik. Die Handlung findet auf der Bühne allenfalls rudimentär statt. Wer mit ihr nicht vertraut ist, wird sie sich aus den Auftritten auf nackter Scheibe kaum erschließen können. Es gibt weder Friedhof noch Sarg, keinen Palast und auch kein Besäufnis. Das stattdessen gezeigte Getrappel und Gehampel ist zwar unterhaltsam und kurzweilig. Der Sinn des Ganzen bleibt indes verschlossen. Gedeutet wird rein gar nichts.

© Sandra Then

Der Fokus liegt auf der musikalischen Seite. Diese ist grandios gelungen. Die Aufstellung des Orchesters auf der Bühne macht es zum gleichberechtigten Mitspieler und erweist sich auch als akustisch sehr vorteilhaft. Die Wiesbadener Musiker zeigen sich unter ihrem neuen Generalmusikdirektor in glänzender Verfassung. Leo McFall präsentiert den Farbenreichtum und den überdrehten Humor der Partitur glasklar und auf den Punkt genau. So bekommen Ligetis musikalische Späße oft mehr Lacher als das halbszenische Geschehen auf der Bühne. Die Sängerbesetzung hält das Niveau des Orchesters. Seth Carico als Nekrotzar hat es mit seinem kernigen Bariton nicht nötig, stimmlich zu grimassieren. Mit (beinahe zu) strahlendem Tenor gibt Cornel Frey den Piet vom Faß. Geradezu berückend vereinen sich Inna Fedoril und Fleuranne Brockway als Liebespaar Amanda/Amando im Duett zu absurd schönen Kantilenen. Eine Art von ironischem Belcanto präsentiert Galina Benevich als Fürst Go-Go (den man sonst mit einem Counter-Tenor besetzt). Josefine Mindus erheitert mit dadaistischen Koloraturen als Venus und Chef der Gepopo. Sion Goronwy, ein stämmiger Baß wie er im Buche steht, hat man als Astradamors sinnfrei in eine rauschende Robe mit überdimensionierter Schleife am Rücken gesteckt. Er trägt sie mit Würde und orgelt seine Partie mit profunder Tiefe. Auch bei den kleineren Rollen gibt es keine Ausfälle. Der Chor fügt sich unter der bewährten Leitung von Albert Horne nahtlos ein.

© Sandra Then

So präsentiert das Staatstheater Wiesbaden sich unter neuer Leitung in musikalischer Hochform. Vor einer echten szenischen Bewältigung von Ligetis überdrehtem Opus magnum hat sich das Produktionsteam gedrückt, aber mit einer bunten Revue in reduziertem, gleichwohl attraktivem Bühnenbild geschickt aus der Affäre gezogen.

Michael Demel, 30. September 2024


Le Grand Macabre
György Ligeti

Staatstheater Wiesbaden

Premiere am 28. September 2024

Inszenierung: Pinar Karabulut
Musikalische Leitung: Leo McFall
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden