Hildesheim: „Don Chisciotte“, Manuel García

Seit einigen Jahren wählt sich das Theater für Niedersachsen (TfN) in jeder Spielzeit ein spartenübergreifendes Motto; diesmal ist es der „Ritter von der traurigen Gestalt“ Don Quichote, dessen Erlebnisse sich als Oper, als Musical und als Schauspiel in einem einheitlichen Bühnenbild ereignen. Den Beginn macht mit „Don Chisciotte“ von Manuel García eine absolute Rarität vom Anfang des 19. Jahrhunderts; im Januar und März 2025 folgen das Schauspiel von Rebekka Kricheldorf nach dem Roman von Miguel de Cervantes und das Musical „Der Mann von la Mancha“.

Manuel García (1775-1832) ist heute nur noch als bedeutender Gesangspädagoge und als Vater der Stars der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts Maria Malibran und Pauline Viardot-García bekannt. Fast schon vergessen ist, dass er 1816 in Rom als Startenor Rossinis Almaviva in der Uraufführung des „Barbiere di Siviglia“ war und in den 1820er-Jahren bei einer Nordamerika-Tour das Publikum mit „Barbiere“, Rossinis „Cenerentola“ und „Otello“ sowie Mozarts „Don Giovanni“ bekannt machte.

Auch ist er mit einigen Kompositionen hervorgetreten, so mit der Oper „Don Chisciotte“ nach Cervantes berühmtem Roman. Nicht eindeutig geklärt ist, wann die Uraufführung stattfand, wahrscheinlich 1829 in Rom. Jedenfalls ist „Don Chisciotte“ in Hildesheim eine deutsche Erstaufführung; in neuerer Zeit ist die Oper lediglich 2006 in Sevilla auf die Bühne gelangt.

 © Clemens Heidrich

Die Oper greift eine Episode aus dem Roman heraus und verknüpft sie mit seinem Ende, wenn der Titelheld sterbend erkennt, dass seine vermeintlichen Abenteuer Illusion gewesen sind und er in seinem Wahn nicht zwischen Dichtung und Realität hat unterscheiden können. Auch der viel zitierte Kampf gegen die Windmühlen wird in einer Erzählung in die Oper mit aufgenommen. Im Zentrum steht allerdings die abenteuerliche Geschichte zweier Paare, Fernando und Dorotea sowie Cardenio und Lucinda. Cardenio und Fernando, der mit Dorotea verheiratet ist, sind beste Freunde. Als sich Fernando allerdings in Cardenios Verlobte Lucinda verliebt, entführt er sie, um sie selbst zur Frau zu nehmen. Alle treffen auf Don Chisciotte, der sich in die Auseinandersetzung der beiden jungen Paare einmischt. Sein Page Sancio Pancia erzählt ihm, dass die Königin Micomicona (später tritt Dorotea als diese auf) ihn um Hilfe gegen einen gefährlichen Riesen bitte. Gegen diesen kämpft er nun und trifft aber nur den Hut seines Pagen. Zuvor waren auch Don Chisciottes Freunde Radipelo und Ferulino im Wirtshaus des Wirts Marcello und seiner Tochter Brunirosa erschienen. Dort sind inzwischen Fernando und Lucinda eingetroffen; dieser duelliert sich mit Cardenio, was Don Chisciotte unterbricht, um den Streit zu schlichten. Die Bühne füllt sich, als ein Dorfrichter erscheint und Fernando festnehmen lässt.

Im zweiten Teil wird es geradezu schauerlich, wenn Dorotea sich zu dem eingekerkerten Fernando begibt, um sich mit ihm zu versöhnen. Das misslingt, und sie will sich deshalb selbst töten. Der Schuss trifft versehentlich Fernando, der tot zu Boden sinkt, nicht ohne zuvor noch ein schönes Duett mit Dorotea gesungen zu haben (ob dies alles original ist, darf bezweifelt werden). Dorotea wird verhaftet und als Mörderin verbrannt, bis es dann zu einer gespenstischen „Freudenfeier“ kommt, in der eine Geisterbotin erscheint und Don Chisciotte eine bessere Zukunft voraussagt, die er richtigerweise als seinen Tod erkennt.

In Hildesheim lässt die Regisseurin Seollyeon Konwitschny-Lee, die auch eine kurze deutsche Dialogfassung erstellt hat, den Maler Francisco Goya auftreten, der in Cervantes‘ Roman gelesen hat und daraufhin wohl die insgesamt wirre Geschichte träumt. Außerdem wird der Friedensrichter, der den Streit der handelnden Personen schlichten soll, durch Napoleon ersetzt. Dies wird damit begründet, dass die Oper möglicherweise schon entstanden ist, als Spanien von 1807 bis 1814 von napoleonischen Truppen besetzt war. So wird am Schluss des ersten Teils Goyas berühmtes Gemälde „Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808“ in einer Szene nachgestellt, als der Friedensrichter alias Napoleon in die Menge schießen lässt. Ganz am Ende der Oper wird ein weiteres Bild Goyas nachgestellt, indem sich geisterhafte Erscheinungen über diesen beugen.

 © Clemens Heidrich

Für die drei Bühnenfassungen des „Don Quijote“ hat Anna Siegrot ein Einheitsbühnenbild geschaffen, das eine meist leere Spielfläche zeigt, die von zylindrischen, verschiebbaren Wänden begrenzt wird; von Amelie Müller sind die zeitgerechten, üppigen Kostüme. Schon gleich zu Anfang soll wohl deutlich gemacht werden, dass es sich um Traumbilder handelt, wenn nämlich drei Statisten mit Eselsköpfen zur Ouvertüre den Raum öffnen. Sie führen den Maler Goya, der mit einem langen weißen Nachthemd und einer Nachtmütze bekleidet ist, auf die Bühne an einen Tisch, wo er in Cervantes‘ Roman liest. Im weiteren Verlauf tritt er nur wenige Male wieder auf. Die beiden Hauptpersonen Dorotea und Don Chisciotte werden zuerst als kleine Marionetten gezeigt. Auch in Normalgröße treten sie  zunächst als Marionetten auf, lösen sich aber allmählich von ihren Haltefäden – Aktionen, deren Sinn offen bleibt und deshalb nicht überzeugt.

Überhaupt darf bezweifelt werden, ob die Wiederentdeckung der Oper nun wirklich lohnend ist. Denn die szenische Verwirklichung ist höchst problematisch, weil man den Inhalt nicht versteht, wenn die teilweise recht langen Arien und Ensembles unkommentiert aufeinander folgen. Hier halfen weder die deutschen Obertitel noch die wenigen Worte der kurzen Dialoge weiter. In Hildesheim kommt eine erhebliche Überfrachtung hinzu wie die Rahmenhandlung des Goya, das Auftreten Napoleons und auch der die Handlung nicht weiterführende, vom Ritter gesprochene schwierige Text von Montesquieu mit seinem anschließenden Gespräch mit Napoleon. Statt dieser Überfrachtungen wäre es zum Verständnis sehr viel besser gewesen, man hätte einen neutralen Erzähler, vielleicht Goya hinzugefügt, wozu sich der Schauspieler Dirk Flindt bestens geeignet hätte, der hier allerdings kein Wort sprechen darf.

 © Clemens Heidrich

Die gelungene musikalische Verwirklichung zeigte die Solidität des Musiktheaters am TfN. Daraufhin drängte sich der Gedanke auf, dass Garcías gefällige Komposition sich bestens für konzertante Aufführungen eignen würde. In der zweiten Vorstellung  nach der Premiere holte GMD Florian Ziemen mit klarer Übersicht und präziser Zeichengebung aus der kleinen, aber tüchtigen TfN-Philharmonie alles heraus, um die deutlich von Rossini beeinflusste Musik zum Klingen zu bringen.

Die gesanglichen Anforderungen sind für alle beachtlich; sie wurden vom Ensemble und einigen Gästen souverän erfüllt. Möglicherweise hat sich García die Titelrolle selbst auf den Leib geschrieben; ob er allerdings in seinem sechsten Lebensjahrzehnt mit den eigenen hohen Ansprüchen zurechtkam, weiß man nicht. Der Hildesheimer Haustenor Yohan Kim jedenfalls hatte damit keine Probleme, indem er seine kräftige Stimme sicher, wenn auch mit leichten Einbußen bei den Koloraturen durch alle Lagen führte. Dorotea war Sonja Isabel Reuter, die trotz angesagter Indisposition mit flinken Läufen und glasklaren Koloraturen zu begeistern wusste. Neu im Ensemble ist derKanadier Andrey Andreychik, der die Rolle des Pagen Sancio Pancia mit munterem Spiel und markigem Bariton ausfüllte; eine auch bei ihm angesagte Indisposition wirkte sich stimmlich nicht weiter aus. Mit seinem schlanken, intonationsrein geführten Tenor gab Julian Rohde denCardenio, während der koreanische Bariton Seunghoon Baek als Fernando gefiel. Ebenfalls als Gast trat die Spanierin Carolina Luquin Duarte auf, die als Lucinda mit feinem Sopran positiv auffiel. Der immer wieder bewährte Uwe Tobias Hieronimi war der Wirt Marcello, dessen Tochter Brunirosa beim charaktervollen Mezzosopran von Neele Kramer gut aufgehoben war, die auch noch die geheimnisvolle Geisterbotin gab. Ohne Fehl waren Eddie Mokofeng und Chun Ding Don Chisciottes Freunde Radipelo und Ferulino; Hogeun Kim ergänzte als Napoleon. Wie immer in Hildesheim zeigten Opernchor und Extrachor in der Einstudierung von Achim Falkenhausen ausgewogene Klangfülle.

Im leider schwach besuchten Haus bedankte sich das Publikum bei den Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Applaus für die guten Leistungen.

Gerhard Eckels, 9. Oktober 2024


Don Chisciotte
Manuel García

Hildesheim – Theater für Niedersachsen (TfN)

Besuchte Vorstellung am 8. Oktober 2024
Premiere am 28. September 2024

Inszenierung: Seollyeon Konwitschny-Lee
Musikalische Leitung: Florian Ziemen
TfN-Philharmonie