Raketenhaft beschleunigte Weltkarrieren blutjunger Dirigenten gehören mittlerweile zum Musikalltag. Ungeachtet der vorhandenen Talente von Persönlichkeiten wie Lahav Shani, Andrés Orozco-Estrada, Yannick Nézet-Séguin oder Mirga Gražinytė-Tyla irritiert es, wenn sie bereits in ganz jungen Jahren mehrere Orchester auf mehreren Kontinenten leiten und mit Recht als „Orchestersammler“ tituliert werden. Bleibt da wirklich Zeit zur künstlerischen und persönlichen Entwicklung?
Eine Sonderstellung unter den dirigierenden Kraftwerken nimmt dabei der gerade einmal 28-jährige Finne Klaus Mäkelä ein, der auf besonders vielen Hochzeiten tanzt. In der Essener Philharmonie tritt er in dieser Saison als „Portraitkünstler“ gleich mit drei europäischen Spitzenorchestern auf: dem „Concertgebouw Orkest Amsterdam“, dessen Chefdirigent er in zwei Jahren werden wird, dem Orchestre de Paris und derzeit im Rahmen einer Tournee mit den Wiener Philharmonikern.
Jugendliche Ausstrahlung, selbstbewusstes Auftreten und eine rundum souveräne Schlagtechnik zeigen in der Tat, dass der auch als Cellist hervorgetretene Musiker Dirigentenpult gut aufgehoben ist. Und nicht nur mancher Fan, sondern auch etliche Musiker der bedeutendsten Orchester dieses Planeten geraten geradezu ins Schwärmen. Seine spektakulären und nicht gerade kostengünstigen Auftritte mit den berühmtesten Orchestern Europas und Amerikas führen allerdings zu einer effektbetonten Ausrichtung der Programme. So wie in Essen mit dem Concertgebouw Orkest und Mahlers Erster Symphonie oder dem Orchestre de Paris mit Mussorgsky/Ravels „Bildern einer Ausstellung“. Das muss kein Nachteil sein. Allerdings kann eine Haydn- oder Mozart-Symphonie mehr über die Fähigkeit eines Dirigenten in Sachen Artikulation und Phrasierung, dem Herz-Lungen-Zentrum jeder Interpretation, Aufschluss geben als eine monumental besetzte Symphonie von Gustav Mahler. So wie jetzt in Essen mit Mahlers Sechster, der sogenannten „Tragischen“. Denn gerade Mahler, selbst ein genialer Dirigent, der genau wusste, wie Orchester und ihre Musiker ticken, führt den Dirigenten mit seinen differenzierten und praxisorientierten Anweisungen geradezu todsicher durch die heftigsten Klippen und längsten Dimensionen seiner Partituren. Und mit einem Super-Orchester wie den Wiener Philharmonikern an der Seite: Was soll da noch schief gehen?
Das soll die Leistung des Dirigenten angesichts der „symphonischen Riesenschlangen“, um Eduard Hanslicks auf Bruckner bezogene Bezeichnung auf Mahler zu übertragen, nicht schmälern. Selbst die Berliner Philharmoniker haben unter Simon Rattle gezeigt, wie lärmend die explosiven Gewaltausbrüche in Mahlers Sechster klingen können. Davon ist bei Mäkelä und den Wienern nicht das Geringste zu spüren. Die Disposition der Klangmassen hält Mäkelä mit großer Umsicht unter Kontrolle. Dabei geht er dynamisch klugerweise von einem geringeren Grundpegel aus als viele seiner Kollegen. Dadurch reicht die Palette von seidenzarten, gleichwohl substanzreichen Pianissimi bis zu kraftvollen Ausbrüchen, die ohne Übersteuerungen gewaltig auftrumpfen. Dazwischen bleibt viel Luft für Soli von erlesenster Delikatesse.
Der Gefahr, mehr auf den Schönklang zu achten und die schroffen Brüche und Risse der abenteuerlich schwankenden Fieberkurven zu überspielen und zu glätten, kann Mäkelä nicht ganz entgehen. Er geht eher „smart“ mit Mahlers Musik um. Auf exorbitant hohem orchestralem Niveau, dafür mit der Grandezza eines jungen Pultstars, für die ihn die Medien und viele Musikfreunde lieben.
Pedro Obiera 23. Dezember 2024
Konzert
Mahler 6.
Philharmonie Essen
19. Dezember 2024
Gustav Mahler, Symphonie 6 a-Moll „Tragische“
Musikal. Leitung: Klaus Mäkelä
Wiener Philharmoniker