Sie waren schon einmal hier. Am 7. März 2024, also vor ziemlich genau 13 Monaten, traten die „Meisterpianistinnen und -pianisten aus Venedig“ schon einmal in Steingraebers Kammermusiksaal auf: in fast derselben Besetzung – nur, dass jetzt einer der angekündigten Musiker aus Krankheitsgründen ausfiel und damals noch zwei andere Namen auf dem Programmzettel standen.
„Meister“-Pianisten? Zugegeben: als Bezeichnung für Schüler mag der Terminus noch (zu) hoch gegriffen sein, aber gleich blieb die Einschätzung des Rezensenten, die einfach zitiert werden kann: „Ich weiß nicht, was Professor Igor Cognolato seinen Schülern beibringt, aber es ist zweifellos etwas Gutes. Man möchte es „nobel“ nennen, wobei die Frage bleibt, was die Studenten an Eigenem schon in die Kurse mitbringen (…) ausnahmslos alle Spieler beherrschen ihr Handwerk, um inmitten der Brillanz der unabdingbaren Poesie den nötigen Raum zu geben.“ Also steht auch diesmal Liszt auf dem Programm; die Reminiscences de Norma sind fast (zunächst sollte es als Finale erklingen) der krönende, eine gute Viertelstunde dauernde Abschluss, ein Prunk- und Schaustück ersten Ranges, ein Klavierzirkusopus, das doch so viel Musik und Lyrik enthält, dass man der Einschätzung nicht widersprechen muss, die man auf Youtube finden kann: „Nicht alle seine Opernfantasien sind Meisterwerke, aber Reminiscences de Norma gehört sicher zu den prächtigsten, die je in diesem Genre geschrieben wurden. Auf der rein technischen Ebene gibt es, wie nicht anders zu erwarten, ein Feuerwerk – Händeüberschlagen, Tonleitern, Oktaven, komplexe Arpeggien, dreihändige Effekte und vieles mehr. Viel wichtiger ist jedoch, dass die musikalische Ausschmückung wunderbar mit dem thematischen Material zusammenarbeitet und es aufwertet – von der strengen Eröffnung und der polternden, stattlichen Einführung des ersten Themas bis hin zur spielerischen Kombination zweier Hauptthemen auf den letzten Seiten.“ Mit anderen Worten: Das Stück macht einfach Spaß, ist bestes, pathosgeladenes, brillantes 19. Jahrhundert. Miruna-Mihaela Maciuca sitzt, wie passend, mit einem blutrot leuchtenden Kleid am Klavier und donnert sich differenziert durch den haarsträubend schwierigen Part – und zeigt, was Liszt unter „Poesie“ (und Effekt) verstand. Chapeau! Davorgelegt: die Chasse-neige aus den Études d’execution transcendante, ein gleicherweise brillantes wie typisch Lisztsches Bild, dessen Reiz sich nicht in der Bravour vollkommen bewältigter technischer Probleme auszeichnet.
Vollkommen? Wenn eine 19jährige Schülerin Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien op. 20 spielt, erwartet man keine über jeden Zweifel erhabene Leistung; es bleibt ja schon erstaunlich, wie Claudia Zanatta das manuell anspruchsvolle Werk in die Hände bekommt. Dass en detail noch einiges an Spannung, an Logik, an Verbindungskraft unbewältigt bleibt (wie die langsame Passagen im ersten Teil des Kopfsatzes, des Allegro): geschenkt! Die Forschheit, mit der sie sich Schumanns origineller, romantisch gebrochener wie lustvoll zupackender Suite widmet, ist großartig. Begonnen hatte der Abend aber, vor den makellos rasanten Etüden op. 10/4, 5 und 12, mit einem gleichsam stillen Stück: mit Chopins Etüde op. 10/3, der Ernst Marischka (aus der berühmten österreichischen Marischka-Dynastie) 1934 den Text „In mir klingt ein Lied“ überstülpte, um daraus auch einen zu singenden Schlager zu machen. Simone Mao spielt sie nicht ganz im (vermutlich…) vorgeschriebenen unausgesetzten Legato, steht damit aber in der Interpretationsgeschichte dieses berühmten Stücks nicht allein; der große italienische Analytiker und Protagonist der musikalischen Klaviermoderne, Maurizio Pollini, bevorzugte ja auch eine eher trockene Deutung. Genau diese Qualifikation aber macht den Ausgang des Konzert zu einem Hörvergnügen ersten Ranges. Ravels Oiseaux tristes, Un barque sur l’Océan und Alborada del gracioso aus dem Miroirs-Zyklus, diese Werke einer neuen Klangsprache von 1905, kommen zuletzt kontrolliert-brillant und souverän – so souverän wie Liszts Erinnerungen an Bellinis Norma.
Bleibt noch Andrea Marinelli, der die beiden Teile durch zwei eigentümlich innige Werke verband. Der Pianist hatte, rein technisch betrachtet, sicher den leichtesten Part, Vergleiche zwischen den Anforderungen, die eine Liszt-Fantasie oder eine Chopin-Etüde an den Musiker stellen, sind sinnlos – und doch neige ich zu der Annahme, dass auch Marinelli sich, falls so etwas Sinn hätte, um den ersten Preis einer vollkommenen, also musikalisch erfüllten Interpretation bewerben könnte. Schumanns Widmung, Mit Myrten und Rosen und Du bist wie eine Blume, seinerzeit transkribiert von Clara Schumann: Es sind, natürlich, Lieder ohne Worte – aber sie so zu spielen, dass sie wie Originale wirken, ist eine Kunst. Eine weitere Entdeckung: der Komponist und Pianist Charles Tomlinson Griffes. Der US-Amerikaner, Jahrgang 1884, gestorben bereits 1920, bekannte sich am Ende seines Lebens sehr deutlich zum französisch geprägten Impressionismus. Mit dem White Peacock aus den Roman Sketches op. 7 bietet er zunächst nichts Anderes als eine kaum veränderte Spielart Debussys, doch bald schon drängen sich härtere, auch durch Skrjabin vermittelte Harmonien, gar sekundenkurze Härten ins Spiel. Der Schrei des Pfaus ist ja kein besonders angenehmer Gesang… Marinelli spielt die Entdeckung schlichtweg betörend: klangrein (auch hier kommt der Sordino-Zug zum Einsatz) und spannungsvoll.
Die Venezianer: Sie waren wieder hier, sie sollten wiederkommen.
Frank Piontek, 17. April 2025
Junge Meisterpianistinnen und -pianisten aus Venedig
Steingraeber Kammermusiksaal Bayreuth
16. April 2025