Plauen: „Salome“, Richard Strauss

Der Prophet kam spät – aber nicht zu spät.

Johannes Schwarz, der Interpret der Rolle des Jochanaan, stand ein wenig zu lange im Stau, so dass der Beginn der Vorstellung um eine halbe Stunde verschoben werden musste: mit freundlichen Freigetränken für jeden Besucher. Daran sieht man zweierlei: dass Theater – und also auch Oper – niemals niemals niemals etwas Selbstverständliches ist, und dass sich eine Verzögerung nicht unbedingt nachteilig auf die Güte einer Vorstellung auswirken muss. Denn Johannes Schwarz sang einen vorschriftsmäßig prachtvollen, voluminös bassbaritonalen wie glasklar artikulierenden Propheten von hohen Graden, der nach dem Schlussakkord, wohl auch aufgrund seiner Nervenstärke, zurecht einen Sonderbeifall einheimste. Ansonsten wäre Salome des Abends – gäbe es einen Messer für Beifallslautstärke- und -Längengrade – die Gewinnerin des Abends geworden, die sie übrigens war, ohne indes ihre Ensemblekollegen in den Schatten zu stellen. Denn Małgorzata Pawłowska, Ensemblemitglied des Theaters Plauen-Zwickau, rockt geradezu die Bühne. Sie singt nicht allein die Titelpartie bravourös, sie vermag es auch, den Tanz so zu gestalten, dass man denken könnte, sie sei im Hauptberuf Table-Tänzerin. Sie erfüllt die Partie der jungen, halb pubertierenden und halb selbstbewussten, halb infantilen und halb souveränen Frau mit einem elan vital, der das Publikum bruchlos in Atem hält. Die Frage, wer denn eigentlich diese Salome ist, die man zur Entstehungszeit der Oper bedenkenlos in die seinerzeit völlig modische und damit zeitgemäße Schublade der „Lasterhaftigkeit“ und der „Perversion“, der „Dekadenz“ und der (natürlich typisch weiblichen) „Hysterie“ einkastelte, diese Frage wird so differenziert beantwortet, dass ein Urteil kaum möglich ist: bei allen eindeutigen Angeboten, die die Sängertänzerin und ihr Regisseur Horst Kupisch dem Publikum geben. Denn Salome ist mehr als eine kranke Kindfrau. In Plauen ist sie eine verzogene Göre und eine seelisch verwundete Heranwachsende, eine kichernde Spielerin und ein um Anerkennung und Selbsterkenntnis ringender Mensch, für den Regisseur übrigens eine „Psychopathin“ (ja, auch das ist sie: eine Psychopathin mit Vorgeschichte) – und singen tut sie mit dem, was Wagner als „höchste Lust“ bezeichnet hat: forte stark, inbrünstig genau, auf 180 Grad, im Kuss- und Schlussmonolog mit einer Versenkungskraft, von der sich manch Kollegin an einem „großen“ Haus eine Scheibe abschneiden könnte. Es wird geküsst, so wie getanzt wird: mit Ernsthaftigkeit. Kein Wunder, dass Herodias und Herodes mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination auf die finale Szene schauen, bevor Salome sich entschließt, mit der Schusswaffe ein letztes Mal die Initiative zu ergreifen und ihre entsetzlich nervenden Eltern zu killen. Werktreu? Nein, besser – werkgerecht. Nebenbei: Dass Jochanaan ermordet wird und sich Narraboth umbringt, ist nicht Salomes Schuld… In diesem Sinn ist die Plauener Aufführung ganz im Heute, indem sie nicht von stereotypen Setzungen ausgeht, die 1905 noch en vogue waren, sondern das Werk „im Licht unserer Erfahrung“, wie Thomas Mann das ausgedrückt hätte, erkunden.

© André Leischner

Apropos „groß“ und „klein“: Dass Straussens „Salome“ mit einer möglichen Orchesterbesetzung auch in Plauen gespielt werden kann, verdanken wir der praktischen wie herkömmlichen Reduzierung der Instrumentalisten. Der GMD des Hauses, Leo Siberski, leitet sicher durch den Abend und die komplexe Partitur, ohne, bei aller Verminderung des Klangs, dem Werk etwas an Sinnlichkeit und rhythmischer Dynamik zu nehmen. Man muss sich nur an den etwas anderen Sound gewöhnen, der es den Sängern gestattet, problemlos über etliche Lautstärkegrade zu kommen. Wir verdanken die Möglichkeit der Plauener Aufführung auch der Tatsache, dass die Bühnen- und Kostümgestalterin Cornelia Just den Orchestergraben deckeln ließ, so dass dort, wo der Graben ist, lediglich ein Abgang mit Treppe und auf der Hinterbühne das Orchester selbst zu sehen ist. Jochanaan aber und Salome und all die anderen treten nicht nur von den Seiten auf, sondern bahnen sich auch ihre Wege durch die Mitte des gestuften Orchesters, was gute szenische Möglichkeiten offeriert. Über all dem schwebt links oben eine Mondsichel, hinten eine Art Flügel, der zusehends zum Oberteil des Hauptes des Täufers wird: langwierig, todesschlafend, sanftmütig. Der letzte Blick, man sieht‘s, ist erloschen. Auch so kann man das grundlegende Blick-Motiv visualisieren. Mehr braucht es bühnenbautechnisch nicht, um das Drama in Szene zu setzen, denn das Drama wird von den Figuren gemacht: von Salome, die optisch und mimisch stark an Audrey Fleurots Morgane in der französischen TV-Serie „HIP“ erinnert, von Jochanaan, dem „Hanswurst“ (O-Ton Strauss) und Fundamentalisten, der, man sieht das deutlich, mehr von den sexuellen Reizen der Prinzessin beeindruckt wird als zugegeben, von Herodes, dem notgeilen Vater oder Schwiegervater (so genau wissen das auch die Historiker nicht), dessen inzestuöse Attacken, von vorn und von hinten, zu eindeutig sind, als dass man Salomes Abscheu, wie er sich auch während des von Sergei Vanaev intelligent choreographierten Tanzes äußert, nicht verstehen würde. Anthony Webb spielt den schrecklichen, aber auch schrecklich leidenden (Schwieger-)Vater mit einer salome-analogen Inbrunst und einem stimmklaren Tenor, der ihn zum verstrickten Dritten im Bunde eines perfekten Trios infernale macht. Die störende Vierte heißt Herodias; Deniz Yetim gibt ihr, auch wenn der Hörer nicht jedes Wort zu verstehen vermag, ein vokal und gestisch scharfes Profil: die „Mutter“ als abgetakelte wie faschingsnahe Schnapsdrossel, die ihren Schmerz über die Unzüchtigkeiten des Alten in Alkohol zu ertränken versucht, anbei doch alles andere als unschuldig auf die Katastrophe schaut. Auch die „kleinen“ Rollen, die so wichtig sind, wurden erstklassig besetzt: Wonjong Lee als Narraboth und Joanna Jaworowska als Page, also eine Gesellschaftsdame im Hosenanzug, sie sind ein dreamteam der „kleinen“ Hofangehörigen im Umkreis des zwischen altrömisch-judäischer und gelind neumodischer Festkultur changierenden und schwer neurasthenischen Patriarchen und seiner irren Frau. Das Judenquintett – kurz, schwierig und hochattraktiv in seiner kontrapunktischen Ausgepichtheit – wird von André Gass, Marcus Sandmann, Alcaios Papanagis, Wonjong Lee und Andrey Valiguras gestaltet: fünf Gestalten fast zeitloser Art, irgendwie aus dem frühen 20. Jahrhundert gefallen, nicht orthodox, nicht ostjüdisch, aber authentisch, ohne karikaturistisch zu wirken. Dass die berühmt-berüchtigte Szene immer noch dem Antisemitismus-Verdacht unterliegt, kann kaum vergessen machen, aber in Plauen schafft man es, ihn, falls man ihn reflektiert, weil man die Fachliteratur kennt, so gut wie vergessen zu machen. Was übrig bleibt, ist Kunst.

© André Leischner

Mit einem Wort: Das Theater Plauen-Zwickau hat mit Salome eine Aufführung hingelegt, die aufgrund ihrer musikalisch-szenischen Qualität und dauernden Hochspannung eine Serie von ausverkauften Vorstellungen verdient hätte. Dem war, hört man, durchaus nicht so, auch die Derniére war nur mittelgut gefüllt – Pech für alle Plauener und Zwickauer Opernfreunde, die erst mal abwarteten, um nun festzustellen, dass sie vielleicht doch etwas verpasst haben. Dabei schmeckte nicht nur der Überraschungssekt vorzüglich. Wie gesagt: Theater und damit Oper ist alles andere als selbstverständlich, ja: Dass abends der Lappen hochgeht, ist, wie der unvergessliche Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft einst sagte, das größte aller Theaterwunder. Wenn eine sehr gute Salome-Aufführung mit einer hervorragenden Interpretin der Sängerin und Tänzerin, der in jedem Sinne höchst anspruchsvollen Titelpartie eine halbe Stunde später beginnt und dann hochspannend über die Bühne eines so genannten Kleinen Hauses geht, ist es schließlich völlig egal, ob der Tenor vorher im Stau stand.

© André Leischner

PS: Nicht die Fachliteratur, sondern das Programmheft wurde – während der laufenden Aufführung – zumindest von einer Besucherin in der 5. Reihe studiert. Die Sache bleibt rätselhaft. War die dargebotene Handlung unverständlich? Definitiv Nein. Waren die Bilder im Programmheft attraktiver als die, die gerade auf der Bühne zu sehen waren? Noch einmal: Nein. War das, was im Dunkeln nicht im Heft erlesen werden konnte, spannender als die Oper? Wieder Nein. Zu den Wundern einer exzellenten Opernaufführung mag es gehören, dass sich nicht Jeder und Jede von ihr gefangen nehmen lässt, aber auch ein altgedienter Opernrezensent muss ja nicht alles verstehen.

Frank Piontek, 20. April 2025



Salome
Richard Strauss

Theater Plauen

Besuchte Vorstellung: 19. April 2025
Premiere: 8. Februar 2025 (Zwickau)

Inszenierung: Horst Kupisch
Musikalische Leitung: Leo Siberski
Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau