Markante Stimme, nur ein funktionierendes Auge: das ist der Österreichische Kammersänger Tomasz Konieczny als Götterchef Wotan in Richard Wagners Ring des Nibelungen. Der gebürtige Pole pflegt diese Rolle nun bereits knapp sein halbes Leben lang: ein halbes Leben voller Veränderung, Weiterentwicklung und immer wieder Wotan von Gottes Anfang bis Gottes Untergang. Zwischen Proben für den Fliegenden Holländer diesen Winter an der Staatsoper Hamburg durfte DAS OPERNMAGAZIN ihn treffen. Während der Himmel über der Hansestadt draußen graut und nieselt, wird drinnen allerhand besprochen: die Sache mit der menschlichen Authentizität, die Vorteile eines psychischen Zusammenbruchs (zumindest für Götter) und Richard Wagners Unterbewusstsein

(DAS OPERNMAGAZIN/OM): Erfährt man eigentlich eine Art sozialen Aufstieg, wenn man vom Alberich zum Wotan graduiert? Wird man anders behandelt?
(Tomasz Konieczny/TK): Das ist eine sehr gute Frage, und es gibt tatsächlich einen quasi-sozialen Aufstieg. Die Sache ist, dass ich nicht mit Alberich angefangen habe: in Mannheim schon vor vielen Jahren unter der musikalischen Leitung von Ádám Fischer habe ich Vorstellungen der Walküre und dem Rheingold gesungen, als Wotan, und die Partie hat mich von Anfang an sehr interessiert, da ich vom ersten Beruf ein Schauspieler bin. […] Dann habe ich aber auf Wunsch des ehemaligen Direktors der Wiener Staatsoper, Ioan Holender, die Partie des Alberich zuerst für eine Arbeitsprobe und dann für die bevorstehende Premiere des Rings an der Wiener Staatsoper vorbereitet. Und ich habe mich irgendwie unter der Regie von Sven Eric Bechtolf damals in diese Partie von Alberich auch sehr verliebt. Dieser arme Kerl, dieser Alberich, ist wirklich sehr aufrichtig! Im Gegenteil zu Wotan. Man sagt, Wotan wäre ein guter Typ und Alberich der Böse, nicht, und von der Bosheit stimmt es irgendwie, weil Alberich dazu gezwungen oder getrieben wird, boshaft zu sein, aber […] bedenken Sie, was der Wotan später macht! Er tötet eigentlich seinen eigenen Sohn, er ist gierig nach Macht, verbannt die eigene Tochter – das ist ein Schurke, nicht! Und wegen dieses sozialen Aufstieges – es war für mich nicht leicht, von Wotan zu Alberich zu wechseln und dann wieder zum Wotan, den ich dann neun Jahre an der Wiener Staatsoper sang, mit großem Erfolg. Und ich bin kein Deutscher; ich bin Pole. Für mich war es tatsächlich eine Art, sich von einer anderen Seite zu präsentieren, und ich musste als Ausländer schon etwas beweisen, etwas zeigen, die Tiefe der Partie den Menschen präsentieren. Und das habe ich, glaube ich, getan.
(OM): Sie sagten einmal – wenn ich mich richtig erinnere – Wotan sei inzwischen Dauergast bei Ihnen, ein Mitreisender im Geiste sozusagen. Manchmal ärgere man sich über ihn, manchmal möge man ihn. Wie sieht das Dasein mit Gott im Kopf aus?
(TK): Wagner selbst wollte es wohl nicht als Götter darstellen – er hatte diese Idee, von Göttern zu sprechen, um menschliche Wesen darzustellen. Es ist ein anderer Ausdruck für das Königliche, was der Verdi zum Beispiel sehr gern zeigt – [beides] eine Elite. […] Ich meinte, den Wotan betrachte ich als Familienmitglied, und das ist tatsächlich so.
(OM): Oh ja!
(TK): Der ist in meinem Kopf sehr präsent, und manchmal wundere ich mich, weil ich mit ihm im Kopf diskutiere und ihn als lebendiges Wesen betrachte. Er ist etwas sehr Lebendiges in diesem Werk von Wagner, dort geschrieben und komponiert. Das faszinierte mich vom Anfang, da ich mich für Wagners Musik interessierte – was nicht immer war. Bei einem Projekt in Limerick und Birmingham haben wir mit einem jungen Orchester zuerst den ganzen Ring gespielt, und ab da war ich fasziniert. Und es geht weiter: man lernt mit jedem neuen Durchlauf, mit jedem neuen ‚Besuch‘ des Rings, man neue Aspekte [kennen], das wurde sicher bewusst – und unterbewusst! – von Wagner komponiert. […] Wagner besaß ein Riesenwissen über die menschliche Natur – oder vielleicht nicht Wissen, aber Kenntnisse und Gespür. Das bewundere ich bei ihm, denn alles, was im Ring vorkommt, ist so wahnsinnig authentisch – einerseits rätselhaft, andererseits auch wahrhaft, wie die Menschen sind. Man muss dem entgegen auch aufrichtig sein, die Gefühle zulassen. Dass er nun eine Götterwelt benutzt, die menschliche Natur zu beschreiben – die großen Künstler und Denker haben immer über Metaphern gesprochen. So kann man mehrere Situationen mit einer beschreiben. Das tut Wagner hervorragend. Für mich wäre es interessant zu wissen, ob Wagner das alles so bewusst geschrieben hat, oder ob es ihm auch vom Unterbewusstsein erschienen ist. Ich glaube schon, dass es sehr viel unterbewusst ist. Wenn man die philosophischen Werke von Wagner und die Texte, seine Denkensweise im Bezug auf die finanziellen Mittel und die Frauen der anderen Männer betrachtet, da denkt man nicht, dass er so aus sich bewusst klug war [lacht]. Es muss unterbewusst gewesen sein. Aber das mindert nicht, was er uns geschaffen hat.

(OM): Wenn Sie zum Singen eines Wotans anreisen, wieviel Prozent seines Wesens haben Sie bereits im Gepäck, weil das einfach Ihre Deutung ist, und wie viel ist flexibel und abhängig von der Inszenierung?
(TK): Man kann mich nachts aufwecken und ich kann den Wotan direkt darstellen, das ist keine Frage. Wenn ich irgendwo hinfahre und merke, dass die Interpretation des Regisseurs komplett anders ist, versuche ich, weiterzuentwickeln. Die Hauptsache ist, dass ich verstehen kann, was der Regisseur meint. Das ist leider nicht immer hundertprozentig der Fall. Ich hatte zuletzt einen Ring, wo ich nicht alles verstanden habe als Darsteller. Trotzdem macht man es, weil das unser Beruf ist. Ich wünsche mir aber als Schauspieler von erstem Beruf, dass ich die Sachen als Künstler verstehen kann, und das ist auch mein Appell an die lieben Kollegen Regisseure: dass sie sich gut die Sachen überlegen. Das Werk ist zu komplex und zu gut geschrieben, um irgendwie vorbeizulaufen und nicht ins Schwarze zu treffen. Es ist sehr dankbar, sehr effektvoll kann es sein, aber es muss irgendwie verständlich sein, mindestens für uns Darsteller, aber das ist nur so nebenbei.
(OM): Das Publikum freut sich auch meistens darüber.
(TK): Das glaube ich auch. Manchmal muss das Publikum nicht alles verstehen – es ist wie bei Chekhov, ein bisschen. Bei Chekhov sprechen die Personen in den Stücken etwa, dass es ein schönes Wetter gibt, und im Hintergrund läuft ein Riesendrama, nicht. Bei Wagner ist es bisschen auch so, bei diesen späteren Werken in jedem Fall, und das bewundere ich als Künstler, als Schauspieler, als Sänger. Wie viel von meiner Interpretation ich mitbringe und letztendlich auf der Bühne darstelle, hängt davon ab – wie ist letztendlich die Inszenierung? Aber ich hänge nicht an meiner Interpretation, würde ich sagen. Das heißt, mit dem Laufe der Zeit und der Erfahrung ist man mehr und mehr offen für die neuen Ideen. Hauptsache, es gibt eine Perspektive. Ich glaube, das ist das Wichtigste überhaupt in unserem Beruf, dass wir als Sänger und Darsteller eine Perspektive der Entwicklung der Persönlichkeit [des Charakters] sehen.
(OM): Wenn man eine Rolle so häufig singt wie Sie den Wotan – sind es 15 Jahre mittlerweile? Ungefähr das findet man im Internet…
(TK): Es sind mehr Jahre, glaube ich! Ich habe angefangen mit 25 oder 26. Oder 27, glaube ich. Und was haben wir jetzt…2025. Ich werde jetzt dreiundfünfzig. Das sind über 25 Jahre, wo ich mich mit dieser Partie beschäftige.
(OM): Nach so vielen Jahren – erreicht man dann eine gewisse selbstsichere Grundflexibilität, dass man weiß, man kann es und daher gern auch variiert? Oder ist Sicherheit der Feind der Abenteuerlust?
(TK): Ich habe meine Überzeugung, nicht wahr, wie die Partie sein sollte. Aber wenn ich eine Idee höre, und wir Zeit haben, etwas auszuprobieren, dann probiere ich gern aus. Wenn es nicht geht, ist eine Notfallkiste drinnen in dem Kopf, und man kehrt zu ihr zurück, um eben diese Perspektive zu erhalten. Es hängt von der Zeit ab [die man zum Proben hat]. […] Ich kann nicht auf die Bühne gehen und etwas zeigen, von dem ich keine Überzeugung habe, und die ich nicht probiert habe. Manchmal habe ich die Zeit – dann probieren wir die andere Interpretation aus und realisieren es. Flexibel bleibe ich. […] Mittlerweile sind es zwanzig verschiedene Opernproduktionen der Walküre, in denen ich den Wotan gesungen habe. Die Partie hängt sehr von dem Darsteller ab; das heißt, die Partie kann man unterschiedlich interpretieren, und das ist der Grund, warum man nicht jeden mit der eigenen Interpretation […] zufriedenstellen kann. Mit Geschmack diskutiert man nicht. […] Der Wagner hat diese Partie offengehalten. Gerade das ist es, was mich daran wahnsinnig interessiert. Deswegen bin ich auch als [erprobter] Wotan für verschiedene neue Interpretationen offen und habe wenig Angst, die Partie irgendwie umzudrehen, oder zusammenzubrechen. Das haben wir mit Andreas Homoki in Zürich gemacht; am Ende ist der Wotan ein zusammengebrochener Mensch. Ich verstehe, wenn Kollegen diese Partie zu ersten Mal singen – da will man diese Macho-Schiene vorspielen und sie haben Angst, zu wenig Autorität zu haben, wenn man zusammenbricht. Ich habe diese Angst nicht mehr.
(OM): Also gibt es Dinge, die Sie jetzt absolut bewusst anders deuten und entsprechend darstellen als beispielsweise vor zehn, fünfzehn Jahren?
(TK): Aber sicher! Inzwischen bin ich jetzt überzeugt, wenn man den Wotan am Ende der Walküre nicht bricht, gibt’s nicht so interessante Perspektiven im Siegfried. Er zeigt offensichtliche Schwäche, direkt schon nach der ersten Szene mit Fricka in der Walküre, und dann wird es nur noch schlimmer. Dann wird er depressiv, und wenn man ihn bricht am Ende der Walküre, dann hat man [im Siegfried] die Möglichkeit, […] einen depressiven Wanderer zu zeigen, einen, der demoralisiert und verbittert ist, nicht. […] Ihm wurde alles genommen: die Tochter, der Ring, seine Macht – und am Ende des Siegfrieds lässt er auch diese letzte Insignie von Macht zerbrechen, den Speer. Es ist ja nicht so, dass Wotan nicht berücksichtigt, dass der Speer brechen kann in der Konfrontation mit Siegfried. Im Gegenteil, er wartet quasi, dass dieser Speer gebrochen wird.
(OM): Fordert er es sozusagen heraus?
(TK): Das sowieso, aber er rechnet sogar damit – oder zählt darauf! – dass dieser Speer zerbricht, denn er sagt in seinem Monolog [im zweiten Walküren-Akt]: ‚das sind die Bande, die mich binden‘. Durch diesen Speer ist er an Verträge gebunden, nicht, und wenn dieser Speer nicht mehr existiert, hat er zwar keine Macht über die Verträge, aber er ist frei, [die Jagd auf] den Ring eventuell wieder aufzunehmen und der Herr der Welt zu werden. Das ist eine riskante Sache…Menschen, die bereit sind, alles zu verlieren, was sie haben, um zu riskieren, dass man etwas anderes bekommt, das sind Visionäre und […] haben auch eine gewisse Erfahrung hinter sich. Ein Spiel ist das, ein Risiko, ein Roulette, das er betreibt. Von der anderen Seite könnte man denken, er ist so verbittert und depressiv, dass es ihm schon egal ist, aber das glaube ich nicht.
(OM): Dann sind wir ja schon beim Verlieren von Dingen. Das deute ich jetzt einfach so, als jemand, der selbst sehr offensichtlich nicht Wotan singt: Wotan jagt zwei als Widerspruch definierten Dingen hinterher: der Liebe, die er nicht lassen kann, und der unendlichen Macht des Rings, dessen Schöpfung bereits der Entsagung aller Liebe bedurfte. Am Ende verliert er an beiden Fronten. Ist Wotan eine Moralgeschichte über einen, der sich sein Glück von Machtverlockung verderben lässt – oder scheitert er daran, dass er die im Ring definierte Gegensätzlichkeit von Liebe und Macht verkennt und sich in ewiger Zerrissenheit nie rücksichtslos genug für die Verfolgung von Macht entscheidet?
(TK): Zerrissen ist er definitiv. Ich denke, die Sache ist die: der Wotan verwechselt am Anfang des Rings Liebe mit einer gewissen [anderen] Freude, oder mit dem Besitzen. Er findet Freude daran, Frauen anzumachen und mit ihnen zu schlafen, Kinder zu zeugen; das darf er, weil Fricka es ihm gewissermaßen erlaubt, oder sie ihm durch Verträge, diesen Heiratsvertrag, verbunden ist, und durch Verantwortung für die ganze Götterwelt, und damit für die ganze Welt. Mit der Zeit lernt Wotan, was die Liebe ist, und er lernt es auf eine schreckliche und sehr dramatische Weise. Er lernt Liebe durch Verlieren. Das ist diese Perspektive, von der ich sprach. Ein jugendhafter Sportler bekommt zu wissen, dass es doch eine höhere Macht über ihn gibt, und das ist die Liebe. Alberich verzichtet auf die Liebe am Anfang des Rheingolds, auf eine sehr bittere Weise […und] man bezeichnet sie beide [Wotan und Alberich] oft als Brüder, weil sie eben übergroße Ambitionen besitzen. Alberich wollte, statt sich eine Frau aus Nibelheim zu nehmen, die ihm gleicht, eine Rheintochter, ein Model haben! Da wird er ausgelacht und das verbittert ihn so, dass er die Liebe verflucht. Bei Wotan ist es auch Ambition. Er war der Einzige der Götter, der Aristokratie, der bereit war, etwas zu opfern, um diese Runen zu lernen und diesen Vertragsspeer zu gewinnen. Man sagt manchmal, Wotan ist ein eingeheirateter Gott, dass er [zuerst] gar kein Gott war.
(OM): Mehr so ein Emporkömmling also.
(TK): Fricka betrachtet ihn auch irgendwie als ein Kind, gerade im Gespräch in der Walküre. Aber die Liebe – er lernt sie auf schmerzliche Weise im Laufe des Geschehens erst kennen, und dann wird ihm bewusst, wie tief er eben gefallen ist, wenn die größte Liebe ihm auf eigenen Wunsch entnommen wird.
(OM): Eine Idee, die in den alten Mythen immer wieder auftaucht, ist, dass Götter sich an nichts Sterbliches binden. Und wenn sie es aber doch tun, dann finden sie heraus, dass man ein Kind nicht gegen ein anderes tauschen kann wie Säcke von Getreide. Man kann seinen einzigen Sohn und seine Lieblingstochter doch nicht ersetzen.
(TK): Das ist auch in Wagners Werk vorhanden […] ich glaube schon, dass Wotan nicht verstanden oder nicht vorgesehen hat, dass eine Beziehung zu einem menschlichen Wesen, oder zu jedem Wesen überhaupt, eine eigene Welt erzeugt. Eine innere Welt. Und die verliert er, diese inneren Welten, eine nach der anderen. Das ist auch die Perspektive. Ich meine, diese Interpretation, die wir mit Andreas in Zürich gemacht haben, der zusammengebrochene, schwitzende, tief gefallene Gott – das ist richtig. Diese Interpretation hatte ich schon einmal: Wotan verlässt Brünnhilde nicht, sondern umgekehrt. Brünnhilde verlässt Wotan.

(OM): Man hat das Gefühl, sie wird es schaffen, aber die Frage ist: schafft er’s?
(TK): Ja, genau, und er schafft es nicht. Waltraute erzählt [in der Götterdämmerung] von diesem allein sitzenden Gott, der auf etwas wartet, und dann am Ende bekommt er doch diesen Ring nie.
(OM): Wotan erhält zudem – trotz seines dauernden Scheiterns – am Ende der Walküre eine besondere Chance, von der unsereins heimlich träumt. Wenn wir jemanden verlieren, wünschen wir uns oft hinterher, wir hätten gewusst, wann die letzte Begegnung war, damit wir einmal hätten mit voller Ehrlichkeit und ungebremst alles sagen können, was wir eigentlich immer sagen wollten. Und wir glauben, dass es dann nicht so wehtäte. Schafft Wotan das Ihrer Meinung nach bei seiner Lieblingstochter Brünnhilde?
(TK): Nein, denn die Voraussetzungen stimmen nicht [lacht]. Wotan zählt sehr darauf, dass sie vom größten Helden dieser Welt wieder erweckt wird, und wer wird es sein? Der Siegfried. Die Hoffnung stirbt zuletzt; Wotan hofft darauf, dass er ihr wieder begegnen wird. Und eigentlich wird fast alles realisiert: sie bekommt den Ring von Siegfried, als Heiratsgeschenk, sie wird befreit. Die einzige Kleinigkeit, die nicht zustande kommt: die liebe Tochter bringt dem Vater den Ring nicht wieder [lacht]. Damit hat er nicht so gerechnet.
(OM): Absolut erstaunlich, dass nachdem er sie so ausgeschimpft hat, sie ihm den Ring nicht bringt!
(TK): Ja, so sind die arroganten Männer so! Und es ist interessant – im Rheingold geht [Wotan] quasi alles in Erfüllung. Und im Laufe der Walküre erkennt Wotan, dass es doch nicht so ist, und er kann nur auf diesen Komplott hoffen, dass alles wieder in Ordnung gebracht wird. Wird es aber nicht, denn letztendlich ist der Alberich der Aufrichtige. Das zeigt auch, wie unsere Welt funktioniert; nicht immer gewinnt das Gute – aber da widerspreche ich mir! Ich will jetzt andeuten, dass der Alberich der Böse ist. Er handelt böse, nachdem er eingeschüchtert wird und keine andere Wahl hat, aber der Alberich hat immer für alles bezahlt. Und doch, Alberich in seinem Instinkt, seiner tierhaften Haltung, gewinnt irgendwie am Ende. Er stirbt nicht am Ende, auch in einigen Inszenierungen.
(OM): Außerdem schwindelt er famos viel – gerade als Wanderer. Wenn man verstehen möchte, wie er wird und wie er endet, darf man seinen Worten im Siegfried überhaupt glauben?
(TK): Absolut nicht! Er intrigiert ohne Ende, jedes Gespräch ist eine Intrige. Er kommt nur zu Mime, weil er schon seit langer Zeit sieht, dass der nix weiß, was er mit diesen Schwertstücken machen soll. Dieses Rätselspiel ist nur dazu gedacht, dem armen Mime bewusst zu machen, was er tun sollte, um dieses Schwert zu schmieden. Er kann es nicht offen sagen und kennt auch die menschliche Natur – wenn er das Mime direkt sagen würde, würde Mime nicht zuhören, weil: so sind die Menschen. Und er kann nicht direkt Verweise geben, weil dann wird es wieder heißen, er hat es eingefädelt. Er überbringt es, indem er ein Rätselspiel spielt. Das ist ein alter germanischer Brauch gewesen. Viele Konfrontationen [der alten Germanen] waren so beendet, dass die Menschen starben, der eine oder der andere. Deswegen hatten sie zum Beispiel dieses Rätselspiel, nicht, wo sie um etwas gespielt haben.
(OM): Zum Beispiel einen Kopf.
(TK): Einen Kopf. Und man kann dem Wotan dann natürlich nichts vorwerfen, dass er etwas gesagt hat, denn er musste es machen. ‚Ich musste es machen, sonst hätte ich mein Leben verloren, ich hatte keine Wahl, ich musste die Wahrheit sagen‘ – nicht? Und dann hat er das Gespräch mit Alberich, wo er offensichtlich den einen Bruder gegen den anderen ausspielt. ‚Nicht ich will den Ring, dein Bruder ist die Gefahr‘ – und wieder springt Alberich auf. Da ist er wieder entschuldigt. Es ist wieder wahr, es stimmt… und er muss der ganzen Welt sagen, da es überall Wanzen gibt und Menschen, die zuhören, ‚ich will nichts von dem Ring, Mime will den Ring‘. Und dann geht er zu Erda, und deshalb ist dieses Gespräch so wichtig und Erda seine letzte Instanz: er will von Erda quasi einen Verweis bekommen. Denn wenn sie ihm verbietet, etwas zu tun, dann weiß er, er darf das nicht. Aber Erda sagt, sie weiß nicht – ‚ja, wenn du nichts weißt, dann ist mein Wille wichtiger, und ich tue, was ich will. Ich darf es machen, weil du nichts dagegen ausgesprochen hast‘. Und dann ist das Gespräch mit Siegfried, wo er den armen Enkel einfach auftreibt. Ja, wenn man einem jungen Helden, der keine Furcht kennt, sagt, du kannst da nicht hingehen, dann will er das Gegenteil machen. Das Spiel mit Siegfried, dass der Speer nur an diesem einzigen Requisit zerbrochen werden kann, das ist auch ein Risikospiel. Wotan weiß nicht, ob das passieren wird. In vielen Interpretation lächelt Wotan in seinen letzten Worten ‚Zieh hin, ich kann dich nicht halten‘. Das ist ein Risikospiel, aber das ist schon ein Spiel. Und je verbitterter der Wanderer ist, desto interessanter. Und der Wanderer kann nur verbittert werden, wenn er in der Walküre ganz tief runterfällt – dann ist er dieser bittere Gott, von allen verlassen, und diese Bitterkeit vom Wanderer macht die Sache viel authentischer. Das ist kein blöder Berlusconi, der mit allem spielt, das ist viel tiefgründiger. Wir glauben an die Traurigkeit dieses Gottes, und dass er depressiv sein darf. Wenn jemand depressiv ist, hat man Mitleid, nicht – und da kommen wir dazu, warum dieser alte Schurke so sympathisch ist. Weil er immer wieder Mitgefühlt erweckt beim Publikum. Das ist vielleicht das Wichtigste bei der Partie, wenn man sie so betrachtet.
(OM): Man fragte Sie einst, welche Möglichkeiten Sie als Sänger hätten, wenn der Regisseur interpretatorisch danebenläge; da meinten Sie, während der [laufenden] Aufführung könnten Regisseure ja gar nichts mehr tun…das klang recht schelmisch. Pflegen Sie einen Hang zur Verselbstständigung auf der Bühne?
(TK): Na ja, es ist bisschen wotanisch, tatsächlich. Wenn eine Interpretation gar nicht übereinstimmt… wobei, ich bin schon sehr, wie sagt man, loyal. Ich mache das, was sie wollen. Meistens bin ich korrekt und mache das nicht gern und sehr selten. Nur dann, wenn ich schon keinen anderen Ausweg finde.
(OM): Es ist ja auch eine fiese Frage. Asche auf mein Haupt – aber wie Sie das sagten, fand ich, ich muss das mal fragen.
(TK): Ja, wir sind auch Menschen, und indem wir Darsteller sind, sind wir auch Künstler, und haben das Recht auf eine eigene Interpretation. Und die guten Regisseure verstehen es. Die guten Regisseure versuchen, uns zu überzeugen, uns zu fördern, indem sie eine andere Interpretation vorschlagen, aber man kann einen Darsteller nicht dazu zwingen, etwas zu machen, das komplett gegen seine Überzeugung ist. Die guten Regisseure verstehen es sehr, sehr gut – letztendlich geht es nicht darum, wer Recht hat; es geht darum, ein sehr interessantes, lebendiges, authentisches Werk dem Publikum zu zeigen. Das ist die erste Voraussetzung. Es gibt natürlich immer wieder Menschen, die die Machtposition viel lieber als das Künstlerische ausspielen, aber ich glaube, ich habe nur zwei, drei in meinem Leben getroffen. Wenn ein Darsteller zu etwas gezwungen wird, leidet er darunter, und der sensible Regisseur sieht es. Und spätestens nach einer Woche fragt er: Tomasz, was ist? Was schmerzt dich so? Und dann sage ich, das verstehe ich nicht, das kann ich nicht, und dann versucht [die Regie], zu helfen. Theater ist eine kollegiale Zusammenarbeit, das muss man verstehen, und man muss aber auch verstehen: der Regisseur hat das Recht, seine eigene Interpretation zu zeigen, indem er uns Darstellern etwas zeigt.
(OM): Sie sagten, Sie arbeiteten schon seit fast Karriereanfang auf Wotan hin. Woran hört man, dass man dafür eine Stimme haben wird? Oder war es auch ein großes Pokerspiel?
(TK): Die Stimme ist schon vorhanden. Das ist das Problem. Oder die Voraussetzung. Ich hatte das Glück, dass ich relativ früh – mit 25 – einen Menschen getroffen hatte, hier in Hamburg, Siegfried Schwab, den Studienleiter. Erst wollte ich überhaupt nicht singen, ich wollte Regisseur werden, dann Schauspieler. Dann kann ich nach Deutschland und nach Hamburg, weil ich einen guten Studienleiter suchte. Das hatte mein Gesangslehrer mir aufgeboten. Und Siegfried Schwab war ein sehr erfahrener Mensch und sehr an der deutschen Musik orientiert. Er war der Erste, der sagte, ‚du hast die Stimme für diese deutsche Heldenbariton-Fach‘. Das hat mich überrascht, denn erstens hatte ich zuerst keine Ahnung von diesem Fach. In Polen kannte man Bass, Bariton und Tenor, keinen Bassbariton. Zweitens hat es mich überrascht, dass meine Stimme für die deutsche Musik geeignet ist. Dann haben wir angefangen, daran zu arbeiten, und er hat mir bewiesen, dass es so ist. […] Wenn man solche Menschen wie Hans Hotter betrachtet, der hat als sehr junger Mensch mit Hans Sachs angefangen. Ich sage immer: wenn die Stimme vorhanden ist, soll man sie dazu nutzen. Wenn nicht, dann soll man warten; vielleicht wird sich die Stimme irgendwann dazu eigenen, diese schwerere Musik zu singen. Und diese Fälle gibt es immer wieder. Es gibt ein paar Kollegen die ich bewundere, die sehr konsequent aus einem leichteren Fach wechseln. Das bewundere ich, denn es beweist eine sehr gute Technik und sehr gute Kenntnisse in unserem Beruf. […] Bei mir war es klar, ein Riesenvolumen, eine gewisse Herbheit [war da], die mir erlauben über das Orchester hinüberzusingen, dass es immer hörbar ist. Die Arbeit war aber sehr schwer; man musste an der Kondition gewinnen, die Ausdrucksmittel neu entwickeln.
(OM): Große Wagnerrollen sind für immense Lautstärke bekannt, die sie benötigen, nicht zwingend für ihre piani – gerade die machen aber oft große emotionale Punkte. Wie bewahren Sie sich gute Piani von der Technik her, gerade wenn man an Szenen denkt wie Wotans Abschied, die am Ende einer anstrengenden Oper noch Schwebeklang brauchen?
(TK): Interessant war für mich, als ich vor zehn Jahre mit Lech Napierała, dem Pianisten, anfing, zu arbeiten. Ganz bewusst habe ich das Angebot aufgenommen, Lieder zu singen, Kammermusik – seitdem haben wir gute acht bis zehn CDs aufgenommen, mit sehr verschiedenem Repertoire, Schubert, Moniuszko, russisches Repertoire und moderne Musik. Ich betrachte es als eine Art Schule, wo ich die neuen Ausdrucksmittel durch diese Kammermusik entwickeln kann. Ich benutze diese Ausdrucksmittel dann tatsächlich in einem Wotansmonolog im zweiten Akt, wo es leise gesprochen werden soll, sehr tief und gesprochen. Und am Ende, wo er den Abschied singt, das kann auch sehr liedhaft sein, man kann sich verschiedene Ausdrucksmittel erlauben. Erstaunlicherweise stelle ich fest, dass auch in Riesenhäusern – wenn man diese piani bewusst und bedeutend darbietet, ist alles zu hören, und das Publikum atmet mit. Ich stelle mir vor, Wagner ist eine Gegenteilswelt; man hat diese riesengroßen fortissimi […] und es gibt diese Momente, wo es sehr intim ist. Diese Lieder geben mir die Möglichkeit, zu experimentieren und etwas anzubieten, was nicht selbstverständlich ist.
(OM): Einmal die Zahlen gewälzt – gehen wir davon aus, dass in jedem aufgeführten Ring zwischen 1-5% des Publikums gerade den ersten Ring live erlebt. Rein rechnerisch dürften Sie mit diesen vielen Jahren Wotan auch die Perspektive und das Erleben eines neuen Ring-Publikums maßgeblich mitgeprägt haben. Gibt es etwas Besonderes, von dem Sie hoffen, es einem jungen, neuen Publikum mitgegeben zu haben?
(TK): Das ist eine Frage, die mich beschäftigt und für mich sehr wichtig ist – und ich lege einen wahnsinnig großen Wert darauf, das junge Publikum und die jungen Sänger auch zu unterstützen. Das junge Publikum muss etwas bekommen, was authentisch ist. Die jungen Menschen kann man nicht belügen. Die jungen Menschen müssen etwas bekommen, was ihnen nicht peinlich erscheint. Immer, wenn wir den Zuschauer belügen, irgendwie, oder pathetisch und nicht wahr sind auf der Bühne, dann empfinden wir das als eine Peinlichkeit. Die kenne ich. Als junger Schauspieler bin ich oft im Nationaltheater in Warschau in der Oper gewesen und kam raus, ganz rot im Gesicht, weil es mir so peinlich gewesen ist. Ich hatte nichts gesehen, was mir interessant war. Es ist eine Frage um Authentizität und eine Frage der Wahrheit, und […] wir müssen dem jungen Zuschauer Qualität zeigen. […] Es muss nichts mit der realen Welt zu tun haben! […] Es muss einfach eine authentische Überzeugung durchkommen – etwas, was fesselt, mit Gefühl und das einem erlaubt, sich damit zu identifizieren, dass es einen etwas angeht. Und das versuche ich, mit voller Kraft seit Jahren zu machen. Ich glaube, Wagner-Musik eignet sich ganz hervorragend dafür. [Unsere Stimmen] können erschrecken und erstaunen, darauf sollten wir aufbauen.
(OM): An dieser Stelle möchten wir uns sehr, sehr herzlich für das ausführliche Gespräch bedanken sowie für die vielen wunderbaren Gedanken! Wir wünschen nur das Beste für den Rest dieser Saison – und freuen uns natürlich auf das nächste Mal Wotan.
Das Interview führte Lynn Sophie Guldin, 26. April 2025
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