Nach der Uraufführung am 3. August 1829 wurde das Werk rasch zusammengestrichen, oft nur einzelne Akte aufgeführt; wegen Zensur wurden öfter auch Inhalt und Handlungsgegend geändert – alles nicht förderlich für eine Kanonisierung. Die erste komplette Aufführung dieser einzigen „echten“ Grand Opéra Rossinis im 20. Jahrhundert fand erst 1972 statt. Die farben- und themenreiche Ouvertüre hingegen war und ist ein konstant beliebtes Konzertstück. Ihre Popularität wurde vor allem auch durch den Galopprhythmus des Finales gefördert, so daß das Stück auch in vielen Filmen, sehr oft in Cartoon-Zusammenhang (Disney mit Donald Duck, Universal mit der Musical Miniiature-Serie, „conducted by Sir Wally Walrus“) zu hören war. Und nicht zu vergessen Spike Jones mit seinem haarsträubenden Pferderennen vom Oktober 1947, das von einem Pferd namens „Feitelbaum“ (so hörte es Gerhard Bronner) oder „Feedlebaum“ gewonnen wird.

Musikalisch war der Abend natürlich, anders als die soeben genannten, vergnüglichen Wahnsinnstaten auf höchstem Niveau ernsthaft, beginnend mit einer überragend interpretierten Ouverture. Trotz fieberhafter Erkrankung wahrte der Würzburger GMD Enrico Calesso Übersicht und Stil; Transparenz, Leichtigkeit, intensive Gefühlsdarstellung fernab von Kitsch, herrliche Balance innerhalb von und zwischen Bühne und Graben: die perfekte Synthese von Grand Opéra und Italianità! Das stilistisch/stilsicher unglaublich vielseitige Bruckner Orchester (gestern und morgen Beethoven und Staud, demnächst Lehár usw.) setzt dieses Dirigat in traumhaft schöne Klänge um. Der deutlich angehobene Orchesterboden hilft mit bei der Transparenz.
Wie Dramaturg Christoph Blitt in der Einführung verkündet, soll die Inszenierung von Georg Schmiedleitner Klischees meiden, und die „Bösen“ sollen nicht mit Sturmgewehren etc. die Schweizer drangsalieren. Nein, ganz anders: der Feind kommt als medizinisches Unternehmen ins Spiel, das einen neuen Menschen schaffen soll. Ausgerechnet beim bekannt, quasi sprichwörtlich hohen Standard der Schweizer Medizinindustrie und Pharmazie ein seltsamer Ansatz. Noch dazu: die Dramaturgie traut dem Konzept so wenig, daß sich nicht die leiseste Spur davon in der Inhaltsangabe im Programmheft findet. Sicher geht es in dem Stück um eine legendenhafte Nationsbildung, die Schiller in seinem Sinne aufgriff und die Autoren der Oper in Zeiten der hin und her wogenden Macht zwischen Republik und Kaiserreich ebenso politisch auffassen mußten. Nur liegt dann diese Inszenierung dermaßen viele Lichtjahre vom Text entfernt, daß der Regisseur nicht nur das Programmheft gänzlich anders gestalten hätte lassen, sondern auch den Mitlauftext abschalten hätte müssen.
Die Schweizer sind hier und heute ein fröhliches Völkchen von Schrebergärtnerinnen und -gärtnern, die ihre Sonnenblumen pflegen. Daß die Eidgenossen gegen Ende des Abends Altdorf einnehmen, läßt sich nicht plausibel machen; die Schrebergärtner könnten höchstens die Macht im Schutzhaus ihrer Kleingartenanlage an sich gerissen haben… Das zu Beginn und gegen Ende relevante Boot wird jeweils aus dem Schnürboden heruntergelassen und bleibt dann meist auf halber Höhe hängen.
Der Feind bricht mit einem Container durch die Wand des Glashauses, in dem die Schrebergärtner werkeln und Hochzeiten feiern. Weiß gekleidete Gestalten – vom Arztkittel bis zu Schutzanzügen – strömen heraus, einige kommen aus nicht näher plausibilisierten Gründen schief und krump daher (Kostüme: Tanja Hofmann). Einige Gärtnerinnen und Gärtner werden zu irgendwelchen unbeholfen inszenierten medizinischen Maßnahmen herangezogen – auch später kommt sowas immer wieder vor; öfter spielt ein Operationstisch eine unklare Rolle. Zuerst als schemenhaftes Bild im Hintergrund, später in Gestalt einiger Statistinnen, zeigt sich ein Menschenmodell ähnlich dem Cyborg von Brigitte Helm aus dem Film „Metropolis“ (1927). Als gelungen witziges Zwischenspiel: das in Paris „unvermeidliche“ Ballett wird zu einer köstlichen Volkstanzparodie genutzt. Erst im 3. und 4. Akt, nach der Pause, nähert sich die Handlung der bekannten an. Das Ende bleibt offen: Schrebergärtner und Eindringlinge haben sich arrangiert und zum Teil assimiliert.
Die Bühne (Harald B. Thor) lebt überwiegend von einer glashausartigen Umbauung und Verkleinerung des Bühnenraumes (ursprünglich war eine Kooperation mit der Dresdner Oper geplant, aber Corona kippte das für 21/22 geplante Vorhaben), wobei farbige Hinterleuchtung (Stefan Bolliger) zur Stimmungsbeschreibung genutzt wird.
Tell ist Adam Kim – stimmlich und stilistisch top, aber die Regie verordnet ihm eine andauernd mürrische Miene, die nicht recht zum Charisma eines Anführers passen will. Arnold Melcthal wird von SeungJick Kim mit samtigem Belcanto Tenor gesungen, mit strahlender Höhe, auch auf canto fiorito vergißt er nicht. Sein Duett mit Mathilde im 2. Akt ist wahrhaft himmlisch, und mit seinem Auftritt im 3. Akt setzt er noch einmal eine lange wie begeisternde Szene drauf.
Tells Sohn Jemmy ist eine stimmlich wie schauspielerisch großartig aufgelegte Fenja Lukas. Erica Eloff leuchtet und strahlt als Prinzessin Mathilde erneut in einer Grand Opéra. Tells Gattin Hedwige ist Angela Simkin – auch sie eine perfekte Besetzung. Schon zuvor wunderbar, kommen die drei Damen dann im Terzett „Je rends à votre amour…“ wirklich zu Tränen rührend zur Geltung: einfach sensationell!

Als Landvogt Gesler dräut Gregorio Changhyun Yun mit profundem Baß, sein Offizier Rodolphe ist der verläßliche Christian Drescher, Fischer Ruodi Jonathan Hartzendorf, Leuthold Chanyang Kwon. Dominik Nekel gibt mit seinem eleganten Baß Walter Furst, von der Kostümierung her noch am ehesten ein einigermaßen gefährlicher Verschwörer. Kurz und stimmlich eindrucksvoll der Auftritt des „alten Melcthal“ Michael Wagner.
Die gesamte Besetzung erfolgte aus dem Ensemble!
Chor und Extrachor (Leitung Elena Pierini und David Alexander Barnard) glänzen mit großen Stimmen und präzisem Spiel, ebenso wie die Statisterie.
Große Begeisterung für Dirigent, Stimmen und Orchester; das Produktionsteam kassiert einige, nicht sehr vehemente, Buhrufe.
Petra und Helmut Huber, 18. Mai 2025
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online
Guillaume Tell
Gioacchino RossiniLandestheater Linz
Premiere am 17. Mai 2025
Regie: Georg Schmiedleitner
Dirigat: Enrico Calesso
Bruckner Orchester