featuring: Ray Chen
22.05.2018 im Concertgebouw
Sibelius Violinconcert, Sinfonie Nr. 6 und Nr. 7
Für mich ist Het Concertgebouw – immerhin schon 1882 erbaut – nicht nur der schönste und berühmteste, sondern auch der akustisch beste historische Konzertsaal dieser Welt. Jeder Musikfreund sollte wenigstens einmal in seinem Leben einen traumhaften Konzertabend dort verbracht haben…
Als Konkurrenz lasse ich noch den großen Konzertsaal in Wien und (modern) die Philharmonie Essen zu. Diese drei Top Tonhallen stehen auf meiner persönlichen Skala ganz vorne; wobei das erstaunlicherweise alles Säle sind, die im "Schuhkartonprinzip" gebaut wurden. Die Altbaumeister waren nicht so schlecht.
Den akustischen Vergleich zur allseits sooooo gerühmten aktuellen Hamburger Alptraumphilharmonie*, die ich nicht gerade als das achte Weltwunder betrachte, verliert das monumentale protzig platzierte Angeberbauwerk auf allen Ebenen – egal ob Klavier-, Kammer- oder großsinfonische Musik.
Zum Sterneabend der höchsten Kategorie wird so ein Besuch natürlich insbesondere bei so einem ganz außergewöhnlichen Programm, wo heuer ausschließlich Werke von Sibelius zur Präsentation standen – und es waren dennoch praktisch alle 2000 Plätze ausverkauft! Bei Preisen bis zu 145 Euro kann es sich nicht nur um ein Touristenphänomen handeln, sondern so etwas spricht für den breiten und bewundernswerten vielseitigen Musikgeschmack der Amsterdamer Konzertfreunde. In meiner Heimatstadt Düsseldorf – ketzerische Anmerkung – fänden sich wohl keine 130 Leute in der großen Tonhalle am Rhein bei solch einem Programm ein.
Daß jenes legendäre London Symphony Orchestra unter der Leitung des wie immer hochsympathisch und kompetent dirigierenden Sir Michael Tilson (Bild weiter oben) mit dem allerhöchsten Qualkitäts-Maßstab an Sibelius Interpretation aufwarten würden, belegt schon seine bereits vorliegende CD Einspielung eben dieses Violinkonzerts.
Ursprünglich sollte Janine Jansen in Amsterdam den Solopart spielen, doch sie hatte kurzfristig abgesagt und so bekamen wir den erst 29-jährigen australisch-taiwanesischen Spitzen-Virtuosen Ray Chen zu Gehör. Was für ein Wunderknabe!
Was für ein Erlebnis! Mit seiner legendären Stradivari (The Macmillan, 1721) entführte er uns quasi in ein anderes Imperium. Obwohl recht populär, gehört dieses Violinkonzert so in etwa zum Schwierigsten und Vertracktesten unter den großen Geigenkonzerten.
Mit welch unfassbarer Virtuosität, romantischer Emphase und technischer Brillanz der junge Künstler überzeugte war so frappierend wie ergreifend; eine solche Meisterleistung ging unter die Haut der empathischen bunt gemischten Zuhörerschaft. Der Publikumsjubel war schier nicht enden wollend.
Daß so etwas mit einem Zirkusstückchen, wie der Caprice Nr. 21 von Paganini als Zugabe, beendet werden musste, war zu erwarten.
Nach der Pause dann Sibelius mit der ganz großen Sinfonik. Die Sechste erinnere ihn immer an den Duft des ersten Schnees, sagte einst Sibelius zu diesem Werk, und fügte hinzu: Wut und Leidenschaft sind unter der Oberfläche verborgen.
Daß man diese "Wintersinfonie" auch im warmen Mai mehr als trefflich genießen konnte, lag an der in jeder Hinsicht perfekten Wiedergabe des LSO unter dem einfühlsamen Michael Tilson Thomas, der glücklicher Weise das Werk nicht in allzu viel nordisch deprimierender Tristesse versinken ließ.
Die nur knapp 22 minütige letzte Sinfonie Nr. 7 besteht nur aus einem Satz. Wobei die Auflösung der klassischen Formenschemata – ganz im Gegensatz zu seinem Freund Gustav Mahler – hier doch sehr zuhörerfreundlich daherkommt.
Eine übersichtliche Fantasie für Orchester deren dichtes Gewebe von aufeinander bezogenen Motiven ausgesprochen kurzweilig rezipierbar ist. Jukka-Pekka Saraste gab deren Inhalt einmal in trefflichen Worten wieder: Freude des Lebens und Vitalität, mit appassionato Passagen.
Schöner kann man so einen Sibelius Themenabend kaum gestalten. 5 Sterne!
Bilder (c) Opernfreund / concertgebouw.nl / Gürzenich Orchester
Peter Bilsing 26.5.2018
P.S.1. Reisetippp
Amsterdam ist eine höchst autofeindliche Stadt. Meine Parkgebühren im städtischen Parkhaus gegenüber betrugen für die Zeit des Konzerts sagenhafte 30 Euro. Na immerhin braucht man kein Kleingeld mit sich rum zu schleppen…
Da lohnt dann der vorherige Besuch des Reichsmuseums (gleiches Parkhaus) denn die maximale Parkgebühr ist netterweise auf 50 Euro pro Tag begrenzt. Fahren Sie unbedingt mit dem Zug – das klappt problemlos, wie mir Freunde versicherten.
P.S.2. Fahrradfahrer-Terror
Ehrlich gesagt fühlte ich mich in keiner Stadt bisher von Autos so bedroht, wie von der armee-artigen Flut fahrradfahrender Kamikaze-Fietser in Amsterdam, die zwar immerhin (ganz im Gegensatz zu Berlin und Münster) Verkehrsampeln nicht ignorieren, dann aber in Kohorten – im Wettrennen mit Rollerfahrern ohne Helm (!) – sich selbst von dem friedlich dahinwandelnden, immerhin 2-Meter großen Opernfreund-Kritiker, kaum beeindrucken ließen. Manchmal hilft dann ggf. nur ein lebensrettender Hechtsprung in die Grünanlagen…