Philippe Boesmans
REIGEN
Premiere: 31. März 2019
Besuchte Vorstellung: 3. April 2019
Etwas Unaufführbareres hat es noch nie gegeben -so äusserte sich Arthur Schnitzler selbst über die zehn Dialoge, die er 1897 unter dem Arbeitstitel Liebesreigen verfasste. Die Uraufführung fand am 23. Dezember 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin statt und war einer der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts.
Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an Arthur Schnitzler: Denn schließlich ist es ja Ihr bestes Buch, Sie Schmutzfink. Worum geht es? Worum es immer geht: Das Stück schildert in zehn erotischen Dialogen die unerbittliche Mechanik des Beischlafs – dankenswerter Weise im Stück selbst nicht gezeigt – und sein Umfeld von Macht, Verführung, Sehnsucht, Enttäuschung und das Verlangen nach Liebe. Dabei werden alle sozialen Schichten vom Proletariat bis zur Aristokratie in einem bunten Reigen kontaktiert.
Der belgische Komponist Philippe Boesmans nahm sich dieses Stoffs in seiner am 4. März 1993 uraufgeführten Oper Reigen an und setzte darin das Prinzip des Reigens musikalisch um. Die eingängige Musik ist reich an humorvollen Irritationen und gleichzeitig von einer allgemeinen Traurigkeit, was den Gemütszustand der ProtagonistInnen auf geschickte Weise widerspiegelt.
Wie bringt ein Regisseur zehn Szenen mit unterschiedlichen Handlungsorten auf die Bühne ohne dass irre viel Zeit für Umbauten gebraucht wird? Markus Bothe, der im Berner Stadttheater zuletzt mit Le Nozze di Figaro und Il Trovatore grosse Erfolge feierte, führt Regie und hat dies, zusammen mit seinem Bühnenbildnerin
Kathrin Frosch geschafft. 10 Szenen und nur eine Pause! So bleiben die dramatische Spannung und der musikalische Fluss erhalten. Keine Pause wäre noch besser und bei eine Spieldauer von 150 Minuten auch tragbar.
Dazu kommt die exzellente Lichtführung, entworfen von Bernhard Bieri, welche subtil die Tageszeiten darstellt und auch die Emotionen der ProtagonistInnen unterstreicht. Der Verzicht auf Videoprojektionen wird von mir dankbar zur Kenntnis genommen. Es geht, wie der Regisseur beweist, bestens auch ohne!
Markus Bothe, stellt in seinem Reigen die Verzweiflung und die Traurigkeit der Menschen stringent ins Zentrum. Denn obwohl sie sich in intensive Liebeleien verstricken, bleiben sie teilweise unfähig, miteinander zu kommunizieren und wirkliche Nähe zuzulassen. Die Kommunikation der Paare auf der Bühne spiegelt die heutige Gesprächskultur wider. Jeder/jede spricht eigentlich nur von und für sich. Oder ist mit seinem Handy anstelle mit dem jeweiligen Partner, der jeweiligen Partnerin beschäftigt.
Bothes Personenführung unterstützt und erlaubt den Künstlerinnen und Künstlern auf der Bühne neben ihrem hervorragenden Singen auch ihre schauspielerischen Leistungen, ihre Körpersprache und ihre Gestik und Mimik einzusetzen. Jede der dargestellten Figuren wirkt lebendig und präsent. Diese Körperarbeit erleichtert das Verständnis für die 10 Geschichten. Der musikalische Ausdruck, die Intonation und die Diktion aller Sängerinnen und Sänger können nur als makellos bezeichnet werden. Mehr ist dazu nicht zu schreiben.
Das Berner Symphonieorchester, geleitet von Kevin John Edusei, interpretiert die sehr modern gesetzte Musik des Komponisten präzise und mit viel Empathie für das Geschehen auf der Bühne. In einigen Passagen könnte Edusei die Dynamik, die Lautstärke zugunsten des Singens auf der Bühne etwas drosseln
Die Kostüme, gestaltet von Justina Klimczyk, werden dem unspektakulären Bühnenaufbau gerecht. Die Dramaturgie von Katja Bury übernimmt viele Regieanweisung Arthur Schnitzlers, da diese für den roten Faden, die zu erzählenden Geschichten wesentlich sind. Als Strukturprinzip verwandte Schnitzler die Tanzform des Reigens(höfischer Rundtanz), wo eine Figur immer die Hand einer neuen Figur für die nächste Szene reicht.
Die Regie/Dramaturgie hat dieses Prinzip weitgehen übernommen. Nach jeder Szene wird ein Partner ausgetauscht und dabei die gesellschaftliche Leiter erstiegen, von Dirne, Soldat und Stubenmädchen über junger Herr, Ehefrau, Ehemann und süßes Mädel bis zum Dichter, der Sängerin und dem Grafen, der am Schluss wieder mit der Dirne zusammentrifft und so den "Reigen" schließt.
Auch verzichten Bury und Botha auf die explizite Darstellung der Sexszenen, so wie dies im Originaltext des Dichters auch vorgesehen ist. Danke!
Das nicht sehr zahlreich erschienene Publikum belohnte die reife Leistung des gesamten Teams mit dem verdienten Applaus. Es ist zu hoffen, dass sich das Berner Konzerttheater bei den weiteren Vorstellungen wesentlich besser füllt! Wer nicht hingeht, verpasst, nein nicht etwas, sondern sehr viel!
Peter Heuberger 5.4.2019
Fotos © Christian Kleiner