besuchte Aufführung am 22.06.12 (Premiere am 02.06.12)
Russischer Zirkus
Mal ganz ehrlich kennen Sie Peter I. Tschaikowskys Oper "Die Zauberin" ? Da gibt es immer noch Unbekanntes zu entdecken, selbst bei einem so populären Komponisten. Entstanden ist die Oper vor der bekannten "Pique Dame", wurde jedoch kein Erfolg, weil das Libretto als anstößig galt. In den Dreissiger Jahren wurde das Stück kurzzeitig in Deutschland gegeben, hierher rührt auch die falsche Übersetzung des Titels, denn "Tscharodeika" wäre eher mit "Die Bezaubernde" zu übertragen. Die Titelfigur ist Gastwirtin und Witwe, bei Nastasja trifft sich allerhand Künstlervolk und Regimekritiker des Fürsten von Nischni-Nowgorod, deshalb taucht der denunzierende Minister Mamyrow gleich mit jenem auf, um "Ordnung" zu schaffen. Doch Fürst Nikita zeigt sich durch die Schöne beeindruckt und verliebt sich prompt in sie; Mamyrow wird erniedrigt. Tatjana Gürbaca hatte ihre Inszenierung schon für die Oper Antwerpen/Gent geschaffen; Klaus Grünberg pfercht auf kleinem Raum mit Grafitti die bunte Künstler- und Oppositionsszene zusammen, in Marc Weegers und Silke Willretts Kostümen tummelt sich da ein obskures, buntes Völkchen von Revolutionären, Esoterikern, ein Nackter und ein russischer Eisbär runden ab. Nastasja sticht im schicken Schwarzen mit Bärenfell-Dragonermütze schon optisch heraus und bildet einen erotischen Sammelpunkt. Kalte Tristesse wiederum kennzeichnet den Salon der eifersüchtigen Fürstin, sehr exakt zeichnet Gürbaca die psychische Situation einer Führungselite, die keinen Spaß mehr am Regieren hat. Intrigen schnüren die Menschen ein, die Mutter benutzt den Sohn gegen den Vater und will durch ihn die Konkurrentin ausschalten lassen.
In ihrer engen Behausung wird Nastasja durch den Fürsten regelrecht belagert und entzieht sich nur knapp einer Vergewaltigung, als der Sohn , Prinz Juri, sie ermorden will, gesteht sie ihm ihre Liebe und beide fallen sich in die Arme. Im finalen Akt begibt sich die Fürstin in den Wald zu einem Giftmischer, als Nastasja sich zur Flucht mit Juri treffen will, wird sie vergiftet, der Fürst gerät darüber außer sich und tötet den eigenen Sohn, bevor er wahnsinnig wird. Gürbaca inszeniert diese krude Dramaturgie als makabren Totenreigen im russischen Varietè, die Handlungen finden inner- halb der Feuerschlucker und "zersägten Jungfrauen" statt. Mir gefällt das ganze Konglomerat nicht wirklich, zwar sieht man immer wieder eine brilliante, intensive Personenführung, tolle Bilder und Bildwirkungen, doch weniger wäre einfach mehr, denn es muß doch nicht jede Idee ihren optischen Widerhall finden. Da wird um Kleinigkeiten einfach der große erzählende Bogen vernachlässigt, manches Mal scheint es so, als ob Gürbaca vor großen Gefühlen Angst bekommt und diese dann durch manchen Firlefanz brechen muß.
Musikalisch bekommt man in Erfurt das Gegenteil: der hochbegabte Johannes Pell läßt die spätromantische Musik durch das Philharmonische Orchester Erfurt in glühendem Pathos leuchten, richtiger Tschaikowsky der großen Emphase. Ilia Papandreou bringt in der Titelpartie sowohl das attraktive Äußere, wie einen saftigen Sopran mit dramatisch lebendigen Farben, einem durchaus aparten Höhentremolo mit. Juri Batukow singt mit großem Bariton den Fürsten als echten Gegenspieler, die Wahnsinnsszene beeindruckt. Olga Savovas Fürstin sieht vielleicht bieder aus, doch ihr schwellender Mezzosopran reißt die kühle Fassade nieder. Markus Petsch hat einen ausgewogenen, sich in der Höhe leicht verengenden Tenor, doch so muß man die Partie erst einmal singen, auch eine sehr gute Leistung. Vazgen Ghazaryans üppiger Bass kommt als Mamyrow leider nur in den ersten beiden Akten zum Tragen. Jörg Rathmann macht aus dem Spion Paisi mit charakteristischem Tenor eine Hauptrolle, sein teuflischer Kabarett-zauberer wirkt grandios. Unter den gar nicht unwichtigen Nebenrollen sticht besonders Stèphanie Müther als Zimmerfrau Nenila mit solidem Mezzo und perfider Rollenauslegung heraus, was nicht heißt, daß Florian Götz, Sebastian Pilgrim, Daniela Gerstenmeyer, Marwan Shamiyeh, Nils Stäfe, Saya Lee und Dario Süß schlechter wären.
Trotz, nach meinem Geschmack, regielicher Einschränkungen, ein spannender, großer Opernabend am Erfurter Haus, der mit einem sehr dramatischen Werk Tschaikowskys bekannt macht, das man vielleicht nicht gleich beim ersten Erleben ins Herz schließt, doch dem man gerne wiederbegegnen würde, um seine Qualitäten weiter auszuloten.
Martin Freitag