Premiere: 05.02.2022, besuchte Vorstellung: 05.03.2022
Traurige Geschichte einer ewigen Suche
Immer wieder entdecken am New Yorker Off-Broadway neue Musicals das Licht der Welt. So auch „Hedwig and the Angry Inch“ welches am 14. Februar 1998 am dortigen Jane Street Theatre uraufgeführt wurde. Das Stück erzählt die Geschichte einer ewig Suchenden, die im Jahr 2001 verfilmt wurde und bei der Broadway-Premiere im Jahr 2014 mit vier Tony Awards ausgezeichnet wurde. Seit einem Monat ist dieses nach wie vor relativ selten gespielte Werk nun auch im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier zu sehen. Kurz zum Inhalt: Als Hansel Schmidt in Ost-Berlin aufgewachsen, überredet ihn der amerikanische GI Luther, die vermeintlich große Liebe, zur Übersiedlung in die USA. Notwendig sei hierfür allerdings die Operation zur Frau, aus Hansel wird somit Hedwig. Leider geht der Eingriff katastrophal schief und von ihrem Glied bleibt ein „angry inch“ zurück. Eine dauerhafte Erinnerung daran, fortan zwischen den Geschlechtern zu stehen. Nach der Trennung von Luther, hält sich Hedwig in den USA mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Hierbei ist sie stets auf der Suche nach einer zu ihr passenden „anderen Hälfte“. Doch auch der nächste Mann in Hedwigs Leben, nutzt sie nur aus. Nachdem aus dem kleinen Thommy – dank von Hedwig komponierten Songs – der gefeierte Rockstar Thommy Nosis wurde, lässt er sie sitzen und verschwindet mit ihren Arbeiten. Während er weiterhin die großen Hallen füllt, tourt Hedwig mit ihrer vierköpfigen Band „The Angry Inch“ und ihrem Begleiter Yitzhak durch deutlich kleinere Locations. Verlassen und ausgenutzt, weder Mann noch Frau führt sie ihr Weg nun an diesem Abend nach Gelsenkirchen.
Der Zuschauer begibt sich im Rahmen dieses Konzertes auf eine rund 105minütige Reise durch Hedwigs tragisches Leben, erzählt in teilweise rockigen, dann aber auch wieder sehr gefühlvollen und persönlichen Rückblicken die von Stephen Trask (Musik und Texte) und John Cameron Mitchell (Buch) geschickt festgehalten wurden. Carsten Kirchmeier setzt die Geschichte sehr gefühlvoll um und sorgt mit seiner rundum stimmigen Inszenierung für den Grundstein eines gelungenen Theaterabends. Während die meisten Lieder in englischer Sprache verbleiben, sind die gesprochenen Texte sowie ausgewählte Songs in Deutsch zu hören. Sehr wichtig ist dies bei einem von der Mutter vorgetragenen „Gute-Nacht-Lied“, da es in diesem Märchen um die Trennung einer Vollkommenheit in zwei Teile geht. In Anlehnung an Platon wird Hedwig hierdurch klar, dass ihr die andere Hälfte fehlt, die sie fortwährend sucht. Leider lassen sich viele Anspielungen in diesem Musical nur schwer oder gar nicht ins Deutsche übersetzen. So bleibt z. B. die Doppeldeutigkeit des Namens Hedwig zu Headwig (head = Kopf / wig = Perücke) den meisten Zuschauern auf den ersten Blick verborgen. Dennoch gelingt es Kirchmeier eine gut verständliche Inszenierung zu liefern, bei dem vielleicht der ein oder andere Zwischenton verloren geht, im gesamten aber ein rundes Bild entsteht.
Die Bühne von Jürgen Kirner (ebenso verantwortlich für die Kostüme) besteht im Wesentlichen aus Hedwigs Konzertbühne, auf der auch die vier Musiker des Abends untergebracht sind. Auf der linken Seite befinden sich zudem mehrere Fernseher, auf denen immer wieder Ausschnitte aus der Liveübertragung von Tommys zeitgleich stattfindendem Konzert eingespielt werden. Eingeschaltet werden diese meist als versuchte Revanche durch Yitzhak, der immer wieder Hedwigs Demütigungen über sich ergehen lassen muss, da diese all ihre zuvor erwähnten schlechten Erfahrungen mit Männern auf ihn projiziert.
Und damit sind wir nun auch beim Hauptargument, warum sich der Besuch im Musiktheater im Revier für den Zuschauer lohnt: Die Besetzung. Alex Melcher brilliert in der Rolle der Hedwig, die nahezu während der gesamten Dauer des Stückes (Aufführung ohne Pause) auf der Bühne steht. Mit einer großen Intensität offenbart er dem Publikum Hedwigs Leben und gewährt hierbei nach und nach tiefere Einblicke in ihre verletzte Seele. Gelungen auch seine anfangs noch sehr überhebliche Arroganz, die sich im Verlaufe des Abends als selbst erstellter Schutzwall gegen die innerlichen Verletzungen entpuppt. Ihm zur Seite steht Nina Janke als Yitzhak, passend zum Stück wird diese Rolle stets von einer Frau verkörpert. Rollenbedingt agiert sie eher im Hintergrund, glänzt aber immer wieder in den harmonischen Duetten und darf bei ihrem Solo dann auch zeigen was in ihr steckt. Auch die Band „The Angry Inch“ ist mit vier hervorragenden Musikern ausgestattet. Die Soundabmischung stimmt größtenteils auch bei den rockigen Nummern, was nicht immer leicht ist. Am Ende spendet das Publikum langen und lautstarken Applaus, was sich alle Beteiligten redlich verdient haben.
Markus Lamers, 06.03.2022
Bilder: © Sascha Kreklau