Premiere: 28.04.2019
Eine Oper für den Broadway
Von den Bühnenwerken Kurt Weills schaffen es eigentlich nur „Die Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ regelmäßig auf die Bühnen großer und kleiner Häuser. Doch das Oeuvre Weills bietet noch ein Stück dessen (Wieder-)Entdeckung sich wahrhaft lohnt: Die Rede ist von Weills „Street Scene“. Vom Komponisten selbst als „American Opera“ – oder dann umgangssprachlich auch als „Broadway Opera“ – bezeichnet, ging es dem aus Deutschland in die USA emigrierten Weill darum, dem Klang einer echten amerikanischen Oper nachzuspüren. Weill nutzte dabei die Formensprache der europäischen Oper und füllte so Arie, Duett und Ensemble mit der aufwühlenden und begeisternden Musik, die er die Jahre vor der Uraufführung im Januar 1947, bereits in den zahllosen Theatern des Broadway hatte hören können. Immer wieder hören wir aber auch wahrhaft Dramatisches in der Musik, so dass eine interessante Doppelbödigkeit zwischen Musical und großer Oper entsteht.
Musikalisch steht das Werk den immer wieder auf den Bühnen zu findenden Musical-Klassikern „West Side Story“ oder „Kiss me, Kate“ somit in nichts nach, bietet fast noch mehr, aber dennoch erfreute es sich in Deutschland in der Vergangenheit keiner großen Beliebtheit, was, erlebt man nun die begeisternde Aufführung der Kölner Oper, eigentlich nicht nachzuvollziehen ist. Fragt man sich, warum dieses Stück so vergessen worden ist, dann muss man sich den historischen Rahmen der Entstehungszeit (also die späten 1940er Jahre) und die Folgejahre vor Augen führen: Stellt man sich die Musiktheaterlandschaft der 1950er Jahre in Deutschland vor, so muss man konstatieren, dass hier das Wort „Broadway“ ein ebenso großes „No go“ war, wie ebendort das Wort „Oper“. 1958 bemühte sich die Düsseldorfer Oper um eine Inszenierung, danach verschwand das Werk bis in die 1990er Jahre in der Mottenkiste und wurde in Deutschland nicht gespielt. Der Name Kurt Weill war eben mit der eingangs erwähnten „Dreigroschenoper“ verbunden, für die oftmals leichte und swingende Tonsprache der „Street Scene“ war in der Vorstellung modernen Musiktheaters der Zeit wenig Platz und für das leichte und unterhaltende Genre waren eben zunächst andere Stücke prädestiniert. Vereinzelt kam es zu Aufführungen etwa am Gärtnerplatz in München, in Altenburg oder in den frühen 2000er Jahren am Theater Aachen. Und nun, 2019, endlich in Köln (nach Dvoraks „Rusalka“) als weitere Erstaufführung in dieser Spielzeit.
Die Handlung des Werks ist eigentlich schnell erzählt: Weill, der als Vorlage das gleichnamige und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Drama von Elmar Rice nutzte, zeigt in Street Scene den Mikrokosmos eines Häuserblocks in New York. Der Zuschauer erfährt von den kleinen und großen Träumen der Bewohner, von den Sehnsüchten, aber auch von den handfesten Auseinandersetzungen. Episodenhaft werden die Erlebnisse der dort lebenden Familien miteinander verwoben. Seien es die Hildebrandts, denen die Räumungsklage droht, seien es die Buchanans denen das Glück einer Geburt ins Haus steht, seien es die Maurrants, auf die der Hauptfokus gerichtet ist, deren Beziehung in einem tödlichen Eifersuchtsdrama zerbricht und deren Tochter von der großen Liebe träumt und sie doch nicht findet, oder eben die zahlreichen anderen Charaktere mit ihren Sorgen- und Glücksmomenten. Weill zeichnet das pralle Leben – echt, realistisch und emotional.
Sage und Schreibe 42 Rollen weist der Besetzungszettel auf, ergänzt durch Tänzer, Chor und Kinderchor. Alle zusammen zeigen eine umwerfende Ensemble-Leistung, die trotz großer Exaktheit eine Leichtigkeit atmet, wie man sie sich nur wünschen kann. Dass so etwas gelingt ist sicherlich auch Verdienst derer, die ob der Überschaubarkeit ihrer Rolle im Weiteren nicht namentlich genannt werden können. Aber natürlich gibt es auch einige Partien, die eben aus der große Street-Szenerie herausragen. Allen voran ist Allison Oakes zu nennen, die in der Rolle der unglücklichen Anna Maurrant zu Höchstform aufläuft. Dramatisch in Stimme und Spiel begeistert sie das ausverkaufte Staatenhaus. Ihr zur Seite steht Emily Hindrichs als Tochter Rose Maurrant. Auch sie präsentiert eine vortreffliche Interpretation ihrer Rolle. Zart, hin- und hergerissen zwischen Familie und dem Leben woanders, zwischen der Liebe und dem Gehorsam zeigt sie stimmlich ein weiteres Mal, was für ein Glücksfall sie für das Kölner Ensemble ist. Aus selbigem finden sich auch zahlreiche „alte Bekannte“ wieder, wie Dalia Schaechter als herrlich schrullige und vertratschte Emma Jones , Claudia Rohrbach als quirlige Greta Fiorentino, Adriana Bastidas-Gamboa als nicht ganz typgerecht besetzte, aber szenisch und gesanglich komplett überzeugende schwedische Einwandererin Olga Olsen und Alexander Fedin als grantelnder Abraham Kaplan. Sicherlich besonders bemerkenswert sind die gesanglichen Leistungen von Jack Swanson als Sam Kaplan und Martin Koch als Lippo Fiorentino. Beide überzeugen mit ausgesprochen klangschönen Stimmen und erfüllen ausgezeichnet die Gradwanderung zwischen großer, dramatischer Oper und Swing. Lobend seien auch explizit die Kinderdarsteller auf der Bühne genannt, die sich frech und mit viel Spaß an der Sache in ihre Rollen werfen und gesanglich, wie auch in den Sprechtexten absolut überzeugen und die Herzen der Zuschauer im Sturm erobern. Der von Rustam Samedov einstudierte Chor klingt exzellent und meistert seinen Part souverän.
Die Inszenierung von John Fulljames (Regie-Mitarbeit Lucy Bradley) erzählt die Geschichte schlüssig. Sicherlich meidet die Regie jeglichen sozialen Sprengstoff, den dieses Stück zu bieten hätte (Migration, häusliche Gewalt, Armut usw.) und legt den großen Weichzeichner über alles und so entsteht ein Sittengemälde mit allzu romantisierender Patina. Das Bühnenbild ist so hübsch rostig, die Kostüme sind so hübsch pastellig – aber sei es drum: Der Abend ist dennoch eine Wucht. Sicherlich ist es bei diesem Werk legitim, gerade weil es die Musik mit ihrem Swing und Jazz eben so hergibt, den Fokus auf das Unterhaltende zu legen. Und das macht die Regie eben ganz ausgezeichnet. Die von Dick Bird entworfene Bühne ist ein Gewirr aus Treppen und Balkonen, aus Gittern und Stiegen, ebenso, wie man das Feuerleitergewirr eines typischen New Yorker Mietblocks kennt. Und in diesem Labyrinth hat die Regie einen Reigen teils skurriler, teils ganz gewöhnlicher Menschen angesiedelt. Die großen und kleinen Geschichten spielen sich hier ab und lassen ein mitreißendes Gesamtbild entstehen. Die Choreographien von Arthur Pita ergänzen die Szenerie adäquat und bringen echtes Broadway-Flair ins Staatenhaus.
Das Gürzenich-Orchester unter Tim Murray zeigt ein weiteres Mal seine unglaubliche Wandlungsfähigkeit. Hier sind nicht nur Strauss oder Mozart in guten Händen, auch die jazzige Partitur Weills wird aufs Trefflichste musiziert. Mal mit unglaublichem Musical-Schmelz in den Streichern, mal rotzig und dreckig im Blech – dieser Sound ist umwerfend. Mag es zu Beginn des Abends hin und wieder auch mal ein bisschen zwischen Szene und Orchester klappern, so lässt das, was der Rest des Abends bringt, dieses Manko vergessen.
Die Kölner Produktion der Street Scene ist wirklich hörens- und sehenswert und wenn man das Stück einmal gesehen hat, bleibt einzig die Frage: Warum wird dieses Stück so selten gespielt? Der Jubel des Premierenpublikums für alle Beteiligten unterstreicht diese Frage nur.
Die Fotos stammen von © Paul Leclaire