Frankfurt: Philharmonia Orchestra London

GIOACCHINO ROSSINI (1792 – 1868)
OUVERTÜRE ZUR OPER „SEMIRAMIDE” (1823)

SERGEJ PROKOFJEW (1891 – 1953)
KLAVIERKONZERT NR. 2 G-MOLL OP. 16 (1913)

PIOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY (1840 – 1893)
SINFONIE NR. 4 F-MOLL OP. 36 (1877 – 78)

SANTTU-MATIAS ROUVALI
Leitung

SEONG-JIN CHO
Klavier

Welche Freude! Nach einer langen Auszeit ist es endlich so weit: die internationalen Orchester der Welt gastieren wieder in der Alten Oper Frankfurt. Mit großer Spannung wurde daher das diesjährige Gastspiel des Philharmonia Orchestra London erwartet. Am Pult stand dessen neuer finnischer Chefdirigent Santtu-Matias Rouvali.

Die Erwartungen waren sehr hoch, denn an gleicher Stelle gastierte vor über drei Jahren das Philharmonia Orchestra mit seinem damaligen Leiter Esa-Pekka Salonen und bescherte den Zuhörern eines der bewegendsten Konzerte der letzten Jahre.

Zu Beginn Lob und Dank an die Programmgestalter, die in dieser kriegswirren Zeit sich nicht von der Dummheit anstecken ließen, russische Musik vom Programm zu verbannen! Das Programm hatte nämlich einen russischen Schwerpunkt. Von daher überraschte ein wenig der Beginn mit einer Rossini Ouvertüre.

Unter Rossinis knapp 40 Opern nimmt „Semiramide“ eine Sonderstellung ein.

Herrlich instrumentiert, vor allem in den Holzbläsern und mit prägnanten Rhythmen versehen, kulminieren die einfallsreichen Melodien in spektakulären Crescendi.

Bereits hier gab es die erste Überraschung zu bestaunen. Heute ist es üblich, im Konzert Werke dieser Epoche mit reduziertem Orchester zu spielen. Ganz anders war es in Frankfurt, denn das Philharmonia Orchestra saß in voller Stärke auf dem Podium.

Es wunderte daher nicht, dass der Beginn ein wenig schwerfällig geriet. Rouvali musizierte diese Ouvertüre mit einer ungewöhnlichen Opulenz und dennoch blieb alles durchsichtig. Klanglich wertete dieser große Klang die Komposition deutlich auf, zumal Rouvali seine hörbare Freude an deutlichen Kontrasten hatte. Selten ist das Schlagzeug derart differenziert im Einsatz. Die Holzbläser brillierten mit ihren Soli und die Streicher agierten mit viel Brio und Lebensfreude.

Im Jahr 1913 erlebte das zweite Klavierkonzert von Sergej Prokofjew seine umstrittene Uraufführung. Das damals 22jährige Enfant terrible spielte es selbst und musste miterleben, wie der Großteil des Publikums völlig überfordert war, ein solch komplexes und kolossales Klavierkonzert zu erleben. Das Konzert überrascht durch seine ungewöhnliche Form von insgesamt vier Sätzen. Tradition und Moderne halten sich die Waage. Erzählerisch, teilweise spätromantisch in der Tonsprache am Beginn, dann wieder expressiv im aufgerissenen dissonanten Ausdruck. Dieses Konzert fordert Solist, Orchester und Zuhörer immens. Obwohl es vier Sätze gibt, gewährte der Komponist keinen Ruhepunkt. Permanent werden die Extreme gesucht.

Solist des Abends war der junge Südkoreaner Seong-Jin Cho. Frappierend in der technischen Perfektion und seiner Souveränität spielte er seinen hoch komplexen Part mit maximalem Einsatz.

In der Dynamik begann er zunächst verhalten, um dann in der ausufernden Kadenz des ersten Satzes einen brutalen Kampf der Elemente zu zelebrieren. Ein Krieg der Tasten, die linke Hand bekämpft die rechte Hand. Cho hämmerte die Sforzati mit großer Gewalt in den Steinway. Auf dem Höhepunkt spülte das Philharmonia Orchestra mit einer gigantischen Klangwoge die Kadenz hinweg. Rouvali suchte hier Dissonanzen zu steigern, was im sonoren Blech zu derben Klangballungen führte.

Die Mittelsätze erschienen wie atemlose Schnellzüge auf Tasten. Im letzten Satz dann noch einmal eine expressive Kadenz, die Cho souverän ausformulierte.

Begeisterung im Publikum, die mit einer kurzen kantablen Zugabe von Seon-Jin Cho belohnt wurde.

Hauptwerk des Abends: die vierte Symphonie von Pjotr I. Tschaikowsky, die in den Jahren 1876 bis 1878 entstand.

Es war eine schwere Zeit für den russischen Meister. Geplagt von seinen vielen Neurosen und seiner unterdrückten Homosexualität traten in dieser Periode zwei Frauen in sein Leben.

1877 heiratete er seine Schülerin Antonina Miliukova. Eine unglückliche Entscheidung, für Tschaikowsky, ein Schlag des Schicksals und so währte diese Farce nur wenige Wochen.

Eine glückliche Fügung in dieser Zeit war hingegen die Begegnung mit Nadeshda von Meck, die zu seiner größten Unterstützerin werden sollte. In unendlicher Fürsprache und wiederkehrender finanzieller Unterstützung wurde sie zu seinem Lichtpunkt in seiner düsteren Seele. Aus großer Dankbarkeit widmete er Frau von Meck seine vierte Symphonie.

Es ist ein Werk der größten Kontraste. Auf der einen Seite steht tiefste, dunkle Verzweiflung und auf der anderen Seite eine lärmende, gellende Lebensfreude, immer wieder durchschnitten durch das düstere Schicksalsmotiv. Der Komponist betrachtete es als Schatten des Lebens und so ist dieser Motivgedanke in seinen drei letzten Symphonien sehr präsent. Tschaikowsky formulierte ein Programm für diese Komposition, welches eher Gefühlszustände beschreibt. Und doch wurde es kein fester Bestandteil der Partitur.

Das Philharmonia Orchestra und Santtu-Matias Rouvali schufen mit einer herausragenden Interpretation den Höhepunkt des Abends. Ein schönes Geschenk für den Geburtstag des großen Komponisten am Tag zuvor.

Rouvali wirkte in seinem Dirigat klar und sachlich, keinerlei Mätzchen oder Eitelkeiten. Somit war der Kontrast denkbar groß zu seiner unaufgeregten Körpersprache und dem emotionalen Sturm, den er entfesselte.

Die Tempi waren gemessen, die Übergänge harmonisch empfunden und mit gezielten Rubati ließ Rouvali immer wieder die Musik innehalten. Emotional glühend und in den Höhepunkten mit gewaltigen Akzenten niederschmetternd, legte Rouvali deutlich die rhythmische Struktur der Komposition offen.

Im zweiten Satz gab er den hingebungsvollen Holzbläsern viel Raum für deren bewegende Zwiesprache.

Schattenhaft, jedoch gemäßigt schrill zog das irrlichternde Scherzo am Zuhörer vorbei.

Im letzten Satz vermied Rouvali jegliches Lärmen und gestaltete mit überlegener Dynamik ein furioses Ende.

Der Jubel für diese wunderbare Interpretation, die so ganz anders und eigen war, war groß und intensiv.

Natürlich gilt es die superbe Spielqualität des Philharmonia Orchestras zu loben, das in allen Instrumenten Gruppen mit fabelhaften Virtuosen besetzt ist. Die Streicher gefielen mit großem Phrasierungseifer und die Holzbläser agierten als sehr individuelle Farbtupfer. Die Blechbläser waren äußerst vielschichtig im dynamischen Ausdruck und der Intonationssicherheit. Hier muss vor allem der großartigen Gruppe der Hörner gehuldigt werden. Ein derart edler, weiter Klang bei perfekter Intonation ist äußerst selten. Pauke und übriges Schlagzeug zeigten eindrucksvoll, wie spannend gerade der letzte Satz wirken kann, wenn ein Dirigent diese Spielgruppe in den Fokus seiner Interpretation stellt. Wunderbar.

Rouvali ist erst seit kurzer Zeit Chef des Philharmonia Orchestras. Auch das zeigte sich an der ein oder anderen Stelle auf sympathische Weise. Im dritten Satz wirkte Rouvali für einen kurzen Moment unkonzentriert, so dass es einen kleinen Schmiss im Orchester gab. Beide Seiten konnten das sofort korrigieren. Auch gab es im letzten Satz Akkorde, die deutlich nicht zusammen waren. Hier werden sich Dirigent und Orchester noch besser synchronisieren. In jedem Fall ist Rouvali mehr als nur ein Hoffnungsträger. Er hat klare interpretatorische Vorstellungen, die keine Kopie sein wollen, sondern in der eigenen künstlerischen Überzeugung geankert sind.

Freuen wir uns also auf viele spannende Konzerterfahrung in dieser Koppelung! In den nächsten Monaten wird Rouvali mit dem Philharmonia Orchestra einige Symphonien von Gustav Mahler erstmals erarbeiten.

Ein schöner Konzertabend.

09. Mai 2022, Dirk Schauß

Bilder (c) alte Oper