Heidelberg: „Rumor“, Christian Jost (1963)

Am Anfang und am Ende ein Mord – mehr als ein veroperter Vorabendkrimi

Christian Jost, nicht nur Komponist, sondern auch Kino-Liebhaber, hatte den Roman „Der süße Duft des Todes“ des Drehbuchautors Guillermo Arriaga („Babel“, „Amores Perros“ und „21 Gramm“) gelesen und war davon unmittelbar als Opernstoff angetan. In Zusammenarbeit mit dem Romanautor verfasste er das Libretto und heraus kam … ein Drehbuch als Folge von fünfzehn Szenen, die zum Teil wie Überblendungen aneinandergereiht sind, mit sehr reduzierten, teilweise lapidaren Dialogen. Jost schrieb die Oper als Auftragswerk für die Vlaamse Opera; am 23.03.2012 wurde sie in Antwerpen uraufgeführt und erhielt eine begeisterte Aufnahme. Denn das Werk – bei aller Modernität der Dramaturgie – enthält, was eine Oper enthalten soll: eine Geschichte mit dramatischer Spannung, verständliche Musik, die stringent mit dem Geschehen einher geht und viele Worte ersetzt, dazu einen Text, der so auf die Musik gesetzt ist (und umgekehrt), dass eine erstaunlicher Textverständlichkeit herauskommt. Jost bleibt mit dem Stoff und seiner Realisierung nahe beim Kinofilm (auch beim zeitlichen Format von gut 100 Minuten ohne Pause), bringt Oper mit einem zeitgemäßen Thema zusammen, das in einer Zeitung irgendwo zwischen Regionalem und Vermischtem abgehandelt würde, und unterscheidet sich so allein thematisch von den anderen zeitgenössischen Opernkomponisten mit ihren historischen Themen. Nun brachte das Theater Heidelberg Rumor in deutscher Erstaufführung heraus.

Totale, Chor

Der Komponist betont, dass seine Oper keinen spezifischen Spielort braucht, wohl aber ein soziokulturelles Umfeld. Ursprünglich aber ist die Handlung in einem mexikanischen Dorf angesiedelt. Adela, ein junges Mädchen, wird ermordet, niemand hat etwas gesehen oder gehört, aber in der kleinen Gemeinschaft bilden sich schnell Gerüchte (rumor!), wer, was, wie hätte sein können. Ramón, heimlich in sie verliebt, betrauert die Tote, die Dorfgemeinschaft stilisiert ihn zu ihrem Liebhaber. Alle anderen Figuren haben keine Namen, sondern werden durch ihre Erscheinungsformen benannt. Das ist die „Geliebte“, eine verheiratete Frau des Orts, die ein Verhältnis mit dem „Fremden“ hat, der ab und zu im Ort auftaucht. „Der Alte“ ist der Polizeiinspektor, der das Verbrechen aufklären will, aber nicht so recht weiterkommt („Die Spuren ergeben ein Durcheinander“); er ist aber dem Kern der Sache sehr nahe gekommen.

Wilfried Staber (Der Alte), Amélie Saadia (Die Gefährtin), Nico Wouterse (Schlachter)

Neben dem Krimi wird ein Sittenbild einer dörflichen Gemeinschaft gezeichnet. Die Stimmung wendet sich gegen den „Fremden“. „Schlachter“, Jäger“ und „Gefährtin“ werden zu Exponenten der Volksmeinung. Sie zwingen Ramón, an dem vermeintlichen Mörder Rache zu nehmen, und zeigen ihm, wie der tödliche Streich gegen den „Fremden“ zu führen sei. Dieser, obwohl gewarnt, hält sich für ebenso unwiderstehlich wie stark, hat sich aber getäuscht: mit einem weiteren Mord endet so die Oper. Diese lineare Handlung mit offen gelassenem Ende ist der Oper unterlegt. Anstelle dramaturgischer Verwicklungen gibt es Zeitrücksprünge in die Vergangenheit: was war, was hätte sein können; die Rückblendungen erfolgen nicht nur in die vergangene Realität, sondern auch in eine geträumte Vergangenheit. Daraus saugt der Stoff seine Spannung. In den Rückblenden ersteht Adela wieder bis zu ihrem erneuten Tod. Christian Jost: „eine Oper, in der aus Illusion Wahrheit wird, Gerüchte zu Tatsachen werden, Lust und Begehren in eine Treibjagd müden, ein Todesengel noch einmal sterben muss“.

Namwon Huh (Ramón)

Das Libretto enthält keine szenischen Anweisungen. Vielleicht weil der Komponist die nicht für notwendig hält, da er sehr Konkretes gar nicht anstrebt – oder weil er weiß, dass sich die Regisseure heute daran sowieso nicht halten. Cum grano salis gelingt es dem Regisseur Lorenzo Fioroni, das Geschehen verständlich auf die Bühne zu bringen – aber auch nicht ohne ein paar seiner üblichen „Fioronis“, die komplizierend und wenig erhellend sind. Von Ralf Käselau lässt er sich ein sehr detailfreudiges Bühnenbild bauen. Es ist ein grob zusammengezimmerter Tanzboden mit Schanktisch zwischen Dorf und Wald vor mitteleuropäischer Mittelgebirgskulisse; alles heftig vermüllt wie nach einer Dorffeier (und vielen Operninszenierungen) üblich. Daneben steht die Datsche der „Geliebten“, in der sie den „Fremden“ empfängt. Durch Drehen der Elemente können in schneller Folge die einzelnen Szenenbilder entstehen. Dazu gibt es seitlich noch einen Hochstand, der mal dem Auftreten von „Jäger“, „Schlachter“ und „Gefährtin“ dient; ein andermal als Kapelle mit lauter Votivbildern behängt der „Geliebten“ einen Rückzugsort für Betrachtung und Reue gewährt. Sabine Blickenstorfer hat das Volk und die Akteure in ein buntes Gemisch von zeitgenössischer Bekleidung gesteckt. Dass die teilweise wattierte Wetterkleidung tragen, während mehr als einmal im Text von großer Hitze und ausbleibendem Regen die Rede ist, ist so ein „Fioroni“ – ebenso die Tatsache, dass sich in einer Szene alle mit entsprechenden Kopfbedeckungen als amerikanische Westler verkleiden und dass über der ganzen Szenierie (cvon hinten zu lesen) in Großbuchstaben TWISTER steht. Aber es gelingt Fioroni gut, das unterschwellige Unwohlsein zu zeigen, welches das soziale Ambiente der Dorfgemeinschaft und ihrer Exponenten erzeugt; dazu hätte es nicht der anonymisierenden Papiertüten bedurft, die man sich gelegentlich über den Kopf zieht.

Irena Simmes (Adela)

Musikalisch ließ der Abend keine Wünsche offen. Das Philharmonische Orchester Heidelberg musizierte unter der Leitung seines bulgarischen GMD Yordan Kamdzahlov in recht großer Besetzung. Zeitgenössische Musik hat Jost per definitionem komponiert; das äußerte sich vor allem zu Beginn in ein paar schrillen Dissonanzen, ehe sich die wenig neutönerische Musik Besinnung auf ihr postromantisches Fundament besann, allerdings mit den Zutaten moderner Stilistik wie prononcierten Glissandi aller geeigneten Instrumente, Vierteltonschritten und natürlich einer modernen Satz- und Instrumentierungstechnik, die für ein opulentes Klangereignis nicht mehr so viele Instrumente braucht, um einen dichten Tonsatz zu erzeugen. Plastisch-programmatische Begleitung, emotional teilweise wie Filmmusik oder überkommene große Oper ansprechend und durchaus inspiriert sind hervorstechende Elemente dieser streckenweise süffigen Orchestermusik. Das ist das Gegenteil von absoluter Musik, wie sie die akademische Avantgarde im Sinn hatte und deswegen nie mit Opern reüssieren konnte. Das Heidelberger Orchester spielte hochkonzentriert und ohne hörbare Wackler auf. Klangschön auch der von Jan Schweiger und Anna Töller einstudierte Opernchor. Dass der in doppelter Stärke wie vom Komponisten vorgeschrieben auftrat, bot der Regie bei der Bewegung wesentlich mehr Möglichkeiten.

der letzte Mord: James Homan (Der Fremde), Adela II (stumm), Namwon Huh (Ramón); vorne liegend: Irena Simmes (Adela)

Theaterwirksam auch der Satz für die Vokalstimmen. Insgesamt elf Solisten (für dreizehn Rollen) wurden bis auf eine Ausnahme aus dem Heidelberger Ensemble besetzt. Ihre Partien sind in vielfach kantabler Linienführung singbar, die Stimmlagen der Partien charakteristisch (und klassisch) abgesetzt. Namwon Huhs lyrischer Tenor war für die Rolle des Ramón besetzt. Stahlige Klarheit, sehr gute Diktion, Höhenfestigkeit, aber auch eine gewisse Enge bei Spitzentönen charakterisierten seinen Gesang. Mit James Homann stand für die Rolle des Fremden ein weich ansprechender, voluminöser, kultivierter Bariton zur Verfügung. Die streckenweise sehr tief gesetzte Rolle des Alten fand in Wilfried Stabers kernigem, donnerndem Bass ihre prächtige volltönende Umsetzung. Als Gast gab Nico Wouterse mit kräftig-dunklem Bassbariton den Schlachter; den Jäger sang Winfrid Mikus mit eher dunklem Charaktertenor. Als Adela war von der Bühnenerscheinung idealtypisch die junge Irina Simmes besetzt, die mit ihrem sehr hellen klaren Sopran zu gefallen wusste – nicht ohne kleine Schärfen bei den Spitzentönen. Die Geliebte sang mit rundem, schön geführtem und gut fokussiertem Mezzo Anna Peshes. Eine weitere Mezzo-Rolle, die der Gefährtin, war mit Amélie Saadia besetzt, die neben ihrem schönen schlanken Stimmmaterial durch ihr quirliges Spiel gefiel.

Sehr herzlicher, lang anhaltender Beifall aus dem vollen Hause für alle Mitwirkenden und auch für den anwesenden Komponisten bewies, dass zeitgenössische Oper heute ohne Vorbehalte angenommen wird – mindestens als Abwechslung von dem großen Repertoireeinheitsbrei, den man überall zu sehen bekommt. Dass gerade die kleineren Theater im Hier und Heute in dieser Beziehung die entscheidende Rolle spielen, muss nicht auch nur großen Musentempeln und deren Direktübertragungen im Fernsehen aus dem Weg gehen möchte. Mit weiteren Terminen vom 28.03. bis zum 18.05. wird Rumor insgesamt sechsmal gegeben. Man kann gespannt sein, welches Haus sich als nächstes des Werks annimmt.

Manfred Langer, 22.03.2014
Fotos: Florian Merdes