Regensburg: „Wüstung (Vastation)“, Samy Moussa

Vorstellung am 30.05.2014

Mieses machtpolitisches Handwerk mit einem Schuss Science Fiction

Der heute in Berlin und Paris lebende Komponist und Dirigent Samy Moussa wurde 1984 in Montréal geboren und erhielt 2013 den Förderpreispreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. Seine erste abendfüllende Oper „Wüstung“ ist als Kompositionsauftrag der Carl-Orff-Stiftung und als Librettoauftrag der Landeshauptstadt München und des Theaters Regensburg in Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Theater Regensburg herausgekommen. „Wüstung“ ist in der deutschen Sprache das Wort für eine verlassene, verfallene Siedlung. Bei diesem missverständlichen Operntitel, handelt es sich hingegen um die deutsche Übersetzung des englischen Titels „vastation“, der sich von devastation ebenso herleitet wie „Wüstung“ von Verwüstung. Ursprünglich sollte die Oper auf Deutsch nach dem gleichen Schema „Nichtung“ heißen, nach Meinung Ihres Kritikers der bessere Titel. Auch der Alternativtitel ist nicht zielführend.

Die Welt scheint noch in 0rdnung: Seymur Karimov (Dimitri), Vera Egorova (Anna), Anna Pisareva Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die Handlung von Wüstung spielt in einem fiktiven Land in der Endphase eines Wahlkampfes. Die noch amtierende Präsidentin Anna ist sich trotz eines aggressiven Wahlkampfleiters und des hingebungsvollen Einsatzes ihres Ehegatten Harry und ihrer Tochter Lola ihrer Wiederwahl nicht recht sicher. Was machen? Eine Krise muss her („Die Lage war noch nie so ernst!“). Angeblich ist man vom Feind bedroht, verfügt aber über eine Wunderwaffe, eine Klangwaffe („Wüstung“), mit der die Städte des Feindes nicht zerstört und dessen Leute nicht getötet, sondern nur wahnsinnig gemacht werden. Zusammen mit Militärchef Dimitri und Tochter entscheidet die Präsidentin den Präventivschlag. Harry, dem die die Präsidentin seine Unwichtigkeit (Beruf: Ehemann!) dargelegt hat, ist dem Suff verfallen und im Koma gestorben. Das Volk jubelt Anna nach dem Einsatz der Klangbombe zu; aber es gibt einen Kollateralschaden: Dimitri hat sich – in vorderster Front – den Wirkungen der Wunderwaffe ausgesetzt und ist wahnsinnig geworden. Ein finsterer Colonel, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, erschießt ihn. Dabei wird auch Anna verletzt. Ihre Tochter will diese Gelegenheit der Schwäche ihrer Mutter nutzen und zusammen mit dem Wahlkampfleiter der Gewalt im Staat zu bemächtigen. Dazu schießt sie noch unter der Gürtellinie, indem sie Annas unschickliches Verhältnis mit Dimitri (dem sie selbst schöne Augen gemacht hat) für ihre Zwecke instrumentalisiert. Wer zuletzt lacht, lacht am besten: der Colonel lässt das junge Paar verhaften, verschiebt die Wahlen und sieht sich „gegen seinen Willen“ genötigt, die Staatsgewalt an sich zu reißen.

Totale

Das englischsprachige Libretto für das Stück stammt von Toby Litt. Psychologische Vertiefungen sind in dem Stoff kaum angelegt. Die Präsidentin Anna, instrumentalisiert von stärkeren männlichen Figuren, zeigt Schwäche gegenüber dem Wahlvolk und wird spätestens dadurch von einer Treibenden zur Getriebenen. Es handelt sich um eine Art Zusammenschnitt verschiedener real erlebter Situationen aus dem politischen Leben ohne zwingenden Handlung, ohne echte Verwicklungen. Wie im Sinne einer Kolportage auf Boulevardpresse-Niveau geht alles sehr direkt und unvermittelt zu. Allein die kurze Spieldauer der Oper von nur 85 Minuten verhindert eine tiefere psychologische Zeichnung der handelnden Figuren; eine Entwicklung des Personals findet auch nicht statt. Da die Ereignisse Schlag auf Schlag kommen, kann sich auch keine Spannung aufbauen – als ob man in einer Zeitung blättert. Mit keiner der Figuren fühlt man als Zuschauer mit. Der Polit-Thriller bleibt wirkungslos, obwohl oder gerade weil derzeit im Weltgeschehen vergleichbare Konstellationen täglich über den Bildschirm flimmern und weil die politische Krise eigentlich gar keine ist. Der eingewobene Familienstoff als private Krise entfaltet ebenfalls keine Wirkung, weil er nicht vertieft wird. So bleibt das Ganze eine unterhaltsame Geschichte ohne Tiefgang. Die Aufführung erfolgt in englischer Sprache mit den von Peter P. Pachl übersetzten Übertiteln.

Frau und Tochter vor dem Dahingeschiedenen: Vera Egorova (Anna), Anna Pisareva (Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die Regisseurin Christine Mielitz hat noch das Beste aus dem Stück herausgeholt, indem sie sich von Dorit Lievenbrück ein abstraktes, in Grenzen variables Einheitsbühnenbild bauen ließ, in welchem das Licht auf die handelnden Personen konzentriert wird. Auf einer schräg ansteigenden Platte ist ein schief darin verankerter Kubus angebracht, neben vor und auf welchem die Personen auftreten. Die Bühne ist im Rechteck mit glittrigen dunklen Vorhängen abgetrennt, in welchen sich der Chor herumdrückt. Die Kostüme von Isabel Glathar sind aus einer funktionalen Gegenwart entstanden, lediglich die Uniform des „Militärchef“ ist mit futuristischer Anspielung gestaltet. Eine solche stellt auch eine stets wiederkehrende Videoprojektion dar, die das Bühnenbild mit binären Codes flutet. Ansonsten dienen die Videos eher dazu, mit abstrakten Lichteffekten für Abwechslung im dunklen Raum zu sorgen (Video: Andreas Hauslaib). Lievenbrücks Kubus stellt im schnellen Wechsel die Spielstätten der Oper dar, die leicht eingänglich vom Rednerpodium bis zum Krankenzimmer der verletzten Präsidentin reichen. Mit einem rechteckigen absenkbaren Leuchtrahmen werden einzelne Szenen bzw. Personalkonstellationen herausgehoben. Christine Mielitz arbeitet zudem mit diversen „Wiederkennungs“ effekten aus der modernen Fantasy-Welt von Legolas‘ Frisur bis zu Lichtschwertern. Die Personenführung ist gekonnt.

Cameron Becker (Campaign Manager)

Es erstaunt, dass für die sonst musikalisch eher avantgardistische ausgerichteten Biennale gerade dieses Stück ausgesucht wurde, denn dessen Klangbild beruht deutlich auf romantischen Mustern, greift in Zitaten bis in den Barock zurück und verträgt sich auch gut mit überkommenen Hörgewohnheiten. Anstelle des Komponisten hatte an diesem Abend Arne Willimczik, erster Kapellmeister am Theater Regensburg, die musikalische Leitung inne; er war auch für die musikalische Studienleitung verantwortlich gewesen. Die musikalische Gesamtleistung des Abends übertraf noch die ansprechende Regieleistung. Konzentriert arbeitete sich das Philharmonische Orchester Regensburg an den prächtigen Klangflächen der Partitur ab, bei denen einerseits einige wenige aufgesetzte schrille Dissonanzen für Unruhe sorgten und die andrerseits von patterns der minimal music durchzogen sind. Dazu kommen leitmotivartige Wiederkennungsthemen und -Harmonien. Der Versuchung, die Klangbombe als sound blast im Sinne von Filmmusik zu komponieren, widersteht der Komponist oder deutet ihn nur an. Das Zwischenspiel des zweiten Akts, als der Klangangriff stattfindet, wirkt vielmehr in seinen ständigen Wiederholungen und auf seiner Basis der tiefen Streicher als ruhender musikalischer Punkt des Stücks. Zu den ins Bühnendunkel projizierten immer neuen Lichtspeer-Spuren erklingt ein musikalisches Muster. Die Gefahr der Situation wird lediglich durch eingestreutes scharfes und unangenehmes Flageolett der Streicher charakterisiert. Der szenisch dezent eingesetzte Opernchor des Theaters war von Alistair Lilley gut präpariert und wirkte auch sprachlich überzeugend.

Ensemble

Obwohl Willimczik die Sänger nicht schonte, brachten diese – überwiegend im Rezitativ-Stil – in dem prächtigen Regensburger Theaterraum ein durchaus ausgewogenes Klangbild zustande. Melodik ist hintangestellt, zur Entwicklung von Gefühlen reicht der schnelle Szenenwechsel nicht. Vera Egorova als Präsidentin baute ihren Gesang auf einem warmen, runden Mezzo-Fundament auf und ließ ihre Höhen blühen. Anna Pisareva als ihre Tochter Lola war dazu mit einer hellen Sopran-Stimme in klassischen Kontrast gesetzt; leichte Schärfen beim Forcieren in der Höhe konnte man ihrer klaren und gut fokussierten Stimme gut nachsehen. Als Militärchef Dimitri überzeugte Seymour Karimov mit noblem kräftigem Baritonmaterial, und Cameron Becker war sowohl stimmlich wie darstellerisch eine sehr gute Besetzung für den Campaign Manager, bestens verständlich sein heller kräftiger und strahlender Charaktertenor, dem Rollenprofil entsprechend auch ein wenig bissig. Klangschön kam der Bassbariton von Jongmin Yoon herüber, dem die Rollen des Ehemanns Harry und des Colonel anvertraut waren. Seine Textverständlichkeit und Farbgebung sind aber gerade in diesem Stimmfach noch verbesserungsfähig; zudem mangelte es ihm an Durchschlagskraft, so dass er folgerichtig in den letzten Szenen als herrscherisch auftretender Colonel über Wangenmikrophon verstärkt wurde.

Fazit: Die Botschaft der Oper wird nicht klar. Ein Lehrstück über Politik hatten die Autoren nicht geplant; das wäre denn auch zu dürftig ausgefallen und bestenfalls auf Halbwüchsige ausgerichtet. Es war aber kein langweiliger, sondern ein eher unterhaltsamer Abend, weil ohne Tiefenwirkung im Text, ohne Provokation in der Inszenierung und mit überwiegend süffiger Musik. Obwohl den Teilnehmern des gleichzeitig stattfindenden Katholikentags in Regensburg die Opernkarten für „Wüstung“ zu einem sehr attraktiven Preis angeboten wurden, war die die Vorstellung war nur mäßig besucht. Aber sie erhielt sehr viel Beifall. Man kann die Oper noch am 17. und 22.06. sowie am 14. und 18.07 sehen.

Manfred Langer, 03.06.2014
Fotos: Martin Sigmund