Karlsruhe: „Le Prophète“, Giacomo Meyerbeer

Premiere 18.10.2015

Sie waren einst die reinsten „Strassenfeger“, die Grand Opéras von Giacomo Meyerbeer. Im 20. Jahrhundert fristeten sie aus verschiedenen Gründen ein Mauerblümchen-Dasein. Nun scheint sich eine Renaissance dieser Werke und dieses wichtigen Komponisten anzubahnen – und das ist gut so. Das Badische Staatstheater Karlsruhe jedenfalls hat mit der gestrigen,zu Recht heftig applaudierten und bejubelten Premiere jedenfalls einen enorm wichtigen Beitrag dazu geleistet.

Spektakulär ist nur schon die Bühne von Rainer Sellmaier. Er hat den Häuserblock eines Problembezirks der Banlieu einer französischen Grossstadt auf die Drehbühne gestellt, mit der schäbigen Bar der Fidès und des Jean, dem angrenzenden Schlafraum, dem Getränkelager und der anonymen Tiefgarage, dahinter das Feld für Streetball und die Treppe, auf der sich die Jugend zu ihren Saufgelagen und ähnlich sinnvollen Freizeitbeschäftigungen trifft. Autos, auch brennende, spielen eine wichtige Rolle. In dieser tristen Betonumgebung, geprägt von Arbeitslosigkeit, Drogen, Gewalt fällt die unheimliche Saat der religiösen Eiferer (bei Meyerbeer sind es Wiedertäufer) natürlich auf fruchtbaren Boden. Regisseur Tobias Kratzer gelingt es mit überaus realistischer Eindringlichkeit, manchmal auch sehr plakativ, die Geschichte von Jean und seiner vom mächtigen Polizeichef (Oberthal) und seinen Schergen missbrauchten Braut Berthe, von seiner Mutter Fidès und von den unsäglichen korrupten Machenschaften der drei Missionare Zacharias, Jonas und Mathisen zu erzählen. Das geht unter die Haut, rüttelt auf, öffnet die Augen. Kratzer ist ein sehr genauer Beobachter der Gegenwart, ein hervorragender Charakterisierungskünstler und scheut sich nicht, Klartext zu reden (zu zeigen): Vergewaltigung, Missbrauch von Knaben durch die Missionare, Manipulation der Massen mit Hilfe der elektronischen Medien (Manuel Braun war verantwortlich für die hervorragenden Videoprojektionen der Postings auf Facbook, Twitter, mittels Live-Kameras). Und wie löst man die Ballettszenen in diesem Ambiente? Denn Eisläufer usw. wie bei Meyerbeer kann man ja nicht zeigen. Eigentlich ganz naheliegend: Man engagiert eine B-BoyingGruppe – und was für eine! Was die sechs Tänzer (Levent Gürsoy, Mohamad Kamis, Faton Kurtishaj, Michael Massa, Trung Dun Nguyen, Hakan Özer) von TruCru/Incredibly Syndicate aufs Parkett, sorry auf die ausgebreiteten Pappkartons der Massenplünderungen, legten, war von umwerfender Perfektion: Freezes, Locking, Powermoves u.v.a.m in absoluter Perfektion. Klasse! Und dies nicht etwa zu Hip-Hop, sondern zu Meyerbeers originalen Märschen und Walzern, die von der Badischen Staatskappelle unter der umsichtigen und präzisen Leitung von Johannes Willig (wie so vieles anderes den ganzen viereinhalb stündigen Abend hindurch) mit Verve, Schmiss und feinfühliger Interpretation aus dem Orchestergraben erschallten. Es gäbe noch vieles zu berichten von dieser spannenden Inszenierung – doch alles soll nicht verraten werden. Ich empfehle: Hingehen und selber anschauen!

Ganz grossartig auch, wie sich der Badische Staatsopernchor, der Extrachor und der Cantus Juvenum (ganz hervorragend!) auf diese schwierige Aufgabe vorbereitet und eingelassen haben. (Einstudierung: Ulrich Wagner). Keinen Moment hatte man das Gefühl, klassische Chorsängerinnen und -sänger zu erleben, sie alle waren perfekt in ihren Rollen als Strassenkinder, umherstreunende Jugendliche und Alkis.

Diese Oper zu besetzen ist wahrlich kein einfaches Unterfangen, denn die Hauptrollen sind umfangreich und äusserst anspruchsvoll. Dass das Badische Staatstheater dazu nur für die Titelrolle einen Gast brauchte, spricht für das herausragende Ensemble. Allen voran soll Kammersängerin Ewa Wolak hervorgehoben werden: Ihre Fidès war schlicht atemberaubend. Die Stimme dieser Altistin hat ein Volumen (das sie aber ungemein differenziert einzusetzen weiss), ein Timbre und einen Registerumfang von stupender Qualität. Sie vermag damit sämtliche Gefühlsregungen und -verwirrungen auszudrücken: Mütterliche Besorgnis, Enttäuschung, Hass, Erniedrigung, Rache, Verzeihung. Dies alles gelingt ihr mit einer Gänsehaut erzeugenden Intensität. Toll auch die Idee des Inszenierungsteams, dass man Frau Wolak im wichtigen vierten Akt per Video der Fernsehteams anlässlich von Jeans Krönung in Grossaufnahme sieht und so zusätzlich zu ihren stimmlichen Künsten auch noch ihre eindringliche Mimik verfolgen kann. Einen weiteren Höhepunkt stellte ihre Air à deux mit der Berthe von Kammersängerin Ina Schlingensiepen dar, in der sich die beiden Stimmen so herrlich vereinen und wieder voneinander absetzen, dazu eine fantastisch sauber a cappella gesungene Passage als Dreingabe. Frau Schlingensiepen, die stets in (zusehends zerrissenen) schwarzen Netzstrümpfen und im tief ausgeschnittenen Top aufzutreten hatte, gezeichnet von zahlreichen blutigen Missbräuchen, war schon vorher mit ihrem zart intonierenden Sopran aufgefallen, der sich jedoch auch mit einer durchaus durchschlagskräftigen Höhe bemerkbar machen konnte. Die Titelrolle vertraute man dem jungen amerikanischen Tenor Marc Heller an. Er stand die schwierige Partie mit der hohen Tessitura (Domingo z.B. sang eine transponierte Version!) mit bemerkenswerter Kraft durch, überzeugte mit feiner französischer Phrasierung und hatte nur in der langen Szene im dritten Akt mit einem kleinen Einbruch zu kämpfen, meisterte aber auch diesen souverän und war nach der zweiten Pause wieder voll da für den vierten Akt (die Begegnung mit und Verleugnung der Mutter). Sehr gut gelang ihm dann der Schlussakt, wenn er sich als Selbstmordattentäter gebärdet und mit Sprengstoffgurt um die Hüfte bewaffnet die ganze Szenerie mitsamt allen Bösewichten (und seiner ihm zu Hilfe eilenden Mutter) in die Luft sprengt. Nur so am Rande: Hier hätte man vom Inszenierungsteam, das vorher nicht mit brennenden Autos, Stretchlimos, Citroën-Kastenwagen, zerbeulten Polizeiautos etc. gespart hatte, eigentlich mehr erwartet, als nur diesen kleinen Pfupf hinter der Szene … .

Mit unheimlicher Bühnenpräsenz agierten die drei Wiedertäufer Zacharias (Avtandil Kapeli mit profundem Bass), Jonas (Matthias Wohlbrecht mit schneidendem Tenor) und Mathisen (Lucia Lucas mit sehr markantem Bariton). Der brutale Polizeichef Odenthal wurde von Armin Kolarczyk mit testosterongesteuerter Schmierigkeit gegeben.

Bei dieser Premiere war das Badische Staatstheater voll besetzt – bleibt zu hoffen, dass diese Produktion (die erste hier seit 1922, an dem Ort, an welchem ein Grossteil der Komposition entstanden war) ebenfalls zu einem „Strassenfeger“ wird!

Kaspar Sannemann 20.10.15

Bilder siehe Oben !

Weitre Aufführungen: 18.10. | 22.10. | 8.11. | 28.11. | 27.12. 2015 | 15.1. | 6.2. | 10.3. | 6.4. | 22.4.2016