Karlsruhe: „Parsifal“

Premiere: 29.3.2015

Von Prometheus zu Karl Marx

Zu Recht von dem begeisterten Auditorium am Ende heftig beklatscht wurde die Premiere von Wagners „Parsifal“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Rechtzeitig zum Karfreitag, zu dem es in wesentlichem Bezug steht, wurde das Bühnenweihfestspiel jetzt in einer vollauf gelungenen Neuproduktion in der Fächerstadt erneut zur Diskussion gestellt. Dass sich das Ergebnis sehen lassen konnte, ist in erster Linie Regiealtmeister Keith Warner zu verdanken, der das Werk vortrefflich durchdacht und mit Hilfe einer präzisen, punktgenauen Führung der Personen auch spannend und abwechslungsreich umgesetzt hatte. Warner hatte den „Parsifal“ schon einmal erfolgreich auf die Bühne gebracht, das war 2012 in Kopenhagen. Die Karlsruher Produktion stellt indes keine Wiederaufbereitung dieser seinerzeit bei Publikum und Presse auf große Zustimmung gestoßenen Inszenierung dar, sondern zeichnet sich durch eine gänzlich neue Konzeption aus. Warner hat sich die ihm in Karlsruhe gebotene Chance, die einzelnen Charaktere weiter zu entwickeln und ihnen ein noch schärferes Profil zu geben, voll genutzt und auf der ganzen Linie Hervorragendes geleistet. Das verschlungene Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Figuren hat er trefflich aufbereitet und in einen überzeugenden geistlich-weltanschaulichen Kontext gestellt. Seine Regie weist viele neue Ideen auf. Dabei gelingen ihm aber auch Bilder von hoher suggestiver Kraft und Eindringlichkeit. Archetypus und Realismus reichen sich in Warners Inszenierung die Hand, der Spagat zwischen beiden wird von ihm vorzüglich und wohldosiert beleuchtet.

Erik Nelson Werner (Parsifal),Christina Niessen (Kundry), Alfred Reiter (Gurnemanz)

Tilo Steffens hat ihm einen karg und nüchtern anmutenden Raum in strengen Schwarz-Weiß-Tönen auf die Bühne gestellt. In dessen Hintergrund ragt eine riesige Kuppel auf, die Raum für mannigfaltige Assoziationen eröffnet. Angesichts der sie umgebenden Rundbogen-Fragmente kann man sie als Bunker innerhalb einer von Auseinandersetzungen geprägten Welt ansehen. Mit Hilfe der Drehbühne ziehen vielfältige, unterschiedlich gestaltete Räume in loser Folge an den Augen des Betrachters vorbei. Ihre Funktionen sind in gleichem Maße vielfältiger Natur wie die Regie, die sich vielschichtig und zeitübergreifend gibt. Letzteres offenbart sich nicht zuletzt an den von Julia Müller erstklassig gestalteten Kostümen, die zum großen Teil modern gehalten sind, aber durchaus auch mal der Entstehungszeit des Werkes huldigen. Im dritten Aufzug weichen die sich drehenden Räume einer Bushaltestelle mit Bank und Straßenlaterne, bei der sich der heimkehrende Reisende Gurnemanz und Kundry treffen. In diesem Ambiente erweist Warner so mancher Größe des Theaters seine aufrichtige Reverenz. So beispielsweise Bertolt Brecht, wenn er die große Szene zwischen Parsifal und Kundry in einem Theater auf dem Theater spielen lässt. Und bei der durchaus nicht als „Urteufelin“ und „Höllenrose“ gedachten, sondern als moderne Frau aus Fleisch und Blut präsentierten Verführerin wird die Nähe zu Ibsen spürbar. Die Art und Weise, wie der Regisseur die bereits zu Beginn von den Knappen stark bedrängte und misshandelte Kundry hier auf Distanz zur ihrer eigenen Sexualität gehen lässt, zu der sie augenscheinlich ein zwiespältiges Verhältnis hat, ist recht eindrucksvoll. Hier haben wir es mit einer Frau zu tun, die gelernt hat, sich und ihr Verhalten selbst zu hinterfragen; und das gilt mehr oder weniger für alle Handlungsträger.

Erik Nelson Werner (Parsifal), Christina Niessen (Kundry)

Bei Warner gerät Wagners Weltabschiedswerk zu einer geistvoll-innovativen Parabel über eine Gemeinschaft, die durchaus religiöser Natur sein kann, es aber nicht sein muss. Sie vermag auch anderen Wertvorstellungen Rechnung zu tragen. In seiner Betrachtung des Grals-Kollektives zeigt sich der Regisseur sehr tolerant. Den verschiedenen Glaubensrichtungen von Christentum und dem von Wagner hoch verehrten Buddhismus stellt er gleichberechtigt philosophische, mythologische und gesellschaftskritische Aspekte an die Seite und schafft damit in der Gralsgemeinschaft ein eindringliches Abbild unserer zeitgenössischen, unterschiedlich zusammengesetzten Gesellschaft. Nacheinander erschließen sich dem Zuschauer Bilder von Isaaks Opferung, dem unter den Augen Kundrys sein Kreuz vorbeitragenden Jesus und einem indischen Buddha. Zentrale Relevanz kommt in diesem Reigen visueller Impressionen aber der Gestalt des an den Felsen gefesselten Prometheus zu. Mit ihm schafft Warner gekonnt einen Weg zu den nicht christlichen Wertordnungen von der altgriechischen Mythologie, der nicht religiösen Philosophie und des Atheismus, wobei er Karl Marx besondere Bedeutung beimisst.

Renatus Meszar (Amfortas), Badischer Staatsopernchor, Statisterie

Der Prometheus-Mythos ist ein Hauptbestandteil der Kritik am Christentum, wie sie vor allem von Marx und anderen namhaften Philosophen geübt wird. John Dew hat vor einigen Jahren in seiner Darmstädter Inszenierung des „Parsifal“ einen ähnlichen Ansatzpunkt gewählt, machte das Ganze aber an Nietzsche fest. Bei Warner ist es, wie gesagt, Marx, der das menschliche Selbstbewusstsein als die oberste Gottheit ansieht. Und dieses kann nur durch ständiges Lernen erworben werden. Dem entspricht es, dass der Lernprozess in dieser Inszenierung eine zentrale Rolle spielt, wobei eine simple Schwarz-Weiß-Malerei nicht stattfindet. Der augenscheinlich den Harry-Potter-Filmen entsprungene Klingsor ist in gleicher Weise ein ernst zu nehmender Lehrer wie Gurnemanz. Beide erwachen jeweils zu Aktbeginn auf derselben Matratze und unterrichten in ein und demselben Klassenzimmer. Diese Gleichstellung wäre vielleicht noch stärker ausgefallen, wenn Warner beide Rollen von demselben Sänger hätte singen lassen. Auf Gut oder Böse kommt es dabei nicht an. Der Grundsatz „Wissen ist Macht“ gilt für jeden und überall. Jeder gibt Wissen nach seiner eigenen Facon weiter. In diesen Prozess eingebunden reift im zweiten Aufzug das hier von Klingsor unterwiesene Kind Parsifal schließlich zum erwachsenen Mann, den seine Mitschülerinnen, ursprünglich die Blumenmädchen, in heißes Erstaunen versetzen. Zunehmend lernt er, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“, womit wir bei Marx’ „Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ angelangt wären, aus der sich der kategorische Imperativ ergibt, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes oder verächtliches Wesen ist. Dieses von Marx herrührende Postulat kommt auch Klingsor zugute. Dieser verkörpert bei Warner nicht das Böse an sich, sondern nur einen Teilaspekt in dem einen Spiegel unserer Gesellschaft darstellenden Gralskollektiv mit all seinen religiösen, bürgerlichen und politischen, in Parteien und Vereinen verbundenen Gruppierungen mit manchmal sehr entgegengesetzten Anschauungen. Konsequenterweise tragen die Gralsritter, die sich im dritten Aufzug auch mal in gewalttätigen Exzessen ergehen, bürgerliche Anzüge. Entsprechend Marx’ eben genannter Kritik an Hegel wird am Ende der alte, vom Glauben geprägte Zustand nicht wieder hergestellt. Der Gral ist und bleibt verschwunden, da können die Knappen noch so viele Kisten auspacken. Es findet eine Grunderneuerung der Verhältnisse statt, in die nun auch die leichte Frühlingskleider tragenden Frauen eingebunden werden. Eine neue Gesellschaft ist entstanden, die mit Religion nicht mehr viel am Hut hat. Der während des gesamten dritten Aufzuges als Rumpelkammer für nicht mehr benötigte spirituelle Gegenstände dienende Innenraum der Kuppel ist am Ende ganz leer. Der Atheismus hat gesiegt. Als Gralskönig wird Parsifal keine Funktion mehr haben, vielleicht aber als Lehrer für ein einzelnes Kind, dessen Interesse an den alten religiösen Werten nicht gebrochen ist. Das hat Warner alles hervorragend durchdacht und so packend und stringent auf die Bühne gebracht, dass man nur staunen konnte. Bravo!

Erik Nelson Werner (Parsifal). Blumenmädchenensemble und -chor

Zufrieden sein konnte man auch mit den gesanglichen Leistungen. Für die Titelpartie stand mit Erik Nelson Werner ein Sänger zur Verfügung, der mit seinem vom Bariton kommenden, dunkel timbrierten, sonoren und obertonreichen Tenor die gesamte vokale Skala des reinen Toren perfekt auszuloten verstand. Mit impulsiver, markanter und sehr gefühlvoller Tongebung verströmter er großen stimmlichen Glanz und ging auch schauspielerisch voll in seiner Rolle auf. In puncto Ausdrucksstärke und Intensität ihres Vortrags stand ihm die über einen beeindruckenden dramatischen Sopran verfügende Christina Niessen als Kundry in nichts nach. Auch sie stürzte sich in jeder Beziehung mit großer Intensität in ihre dankbare Rolle, die sie mit gutem stimmlichem Fokus, markant intonierend und mit sicheren hohen h’s meisterte. Die großen Leiden und die ausgeprägte Agonie des Amfortas hat Renatus Meszar mit insgesamt trefflich sitzendem Heldenbariton und einer ausgedehnten Ausdrucksskala eindringlich vermittelt. Dass er aber ursprünglich ein Bass ist, belegt neben seinem Bruchton d das im dritten Aufzug nicht erreichte hohe g. Die Höhe war es auch, die dem Gurnemanz von Alfred Reiter manchmal zu schaffen machte. Das hohe es bei „O wunden-wundervoller heiliger Speer“ misslang ihm gänzlich und klang reichlich gequält. Besonders im oberen Stimmbereich klang sein nicht sehr tiefgründiger Bass oft recht kopfig. Wie anders dagegen Jaco Venter, der mit stimmlichem Totaleinsatz, vorbildlich tiefer Fokussierung seines kraftvoll und markant geführten Baritons und vorbildlicher Diktion einen exzellenten Klingsor sang. Von Avtandil Kaspelis großen Bass-Wohlklang verströmendem, im ersten Aufzug in einem Glassarg liegendem Titurel hätte man gerne mehr gehört. Von den Gralsrittern hatte der Tenor Steven Ebel gegenüber seinem Bass-Kollegen Luiz Molz die Nase vorn. Die Blumenmädchen waren mit Ks Ina Schlingensiepen, Lydia Leitner, Sofia Mara, Agnieszka Tomaszewska, Ks Tiny Peters und Katharine Trier insgesamt ansprechend besetzt, nur der allzu dünne Sopran von Frau Peters störte den ansonsten trefflichen Klangeindruck etwas. Die Damen Leitner und Mara werteten mit ihren vollen, runden Stimmen zudem die kleinen Partien des ersten und des zweiten Knappen gehörig auf. Flach gab Max Friedrich Schäffer den dritten Knappen. Noch dünner intonierte der stimmlich ebenfalls noch sehr unfertige Nando Zickgraf die kurzen Einwürfe des vierten Knappen. Keine gute Idee war es, die für einen Alt geschriebene Stimme aus der Höhe von dem Knabensopran Moritz Prinz singen zu lassen. Bei dem von Ulrich Wagner einstudierten Badischen Staatsopernchor machten in erster Linie die Damen und die Bassisten nachhaltig auf sich aufmerksam. Bei den Tenören dominierten an diesem Abend leider etwas die nicht im Körper sitzenden Stimmen.

Erik Nelson Werner (Parsifal), Christina Niessen (Kundry), Alfred Reiter (Gurnemanz)

GMD Justin Brown am Pult fasste den ersten und den dritten Aufzug sehr weihevoll auf und präsentierte sie in sehr gemäßigten, getragenen Tempi. Der zweite Aufzug dagegen nahm unter seiner versierten Leitung die Ausmaße einer großen Oper an. Da ließ er die Zügel locker und animierte das prachtvoll aufspielende Badische Staatskapelle zu einer von großer Dramatik und Fulminanz geprägten Tongebung. Durch die Bank vorzüglich waren die fein gesponnenen, langen und große Spannung atmenden Bögen sowie die an den Tag gelegte große Transparenz. Da war fast jede Kleinigkeit deutlich zu vernehmen. Auch Brown hatte sich den starken Schlussapplaus, der ihm am Ende seitens des begeisterten Publikums entgegenschlug, redlich verdient.

Ludwig Steinbach, 1.4.2015
Die Bilder stammen von Jochen Klenk