„Wenn man die Wirklichkeit nachbildet, kann etwas Gutes herauskommen, aber die Wirklichkeit erfinden ist besser, weit besser“, sagte Giuseppe Verdi einst. Getreu diesem Grundsatz sind seine Opern nie historisch exakt, bestenfalls historisierend. Verdi ging es nicht um theatralen Geschichtsunterricht, sondern darum, historische Konstellationen zu benutzen, um menschliche Tragödien und psychische Abgründe offenzulegen, Kritik an gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zu üben. So verfuhr er (wie übrigens auch Friedrich Schiller, der Verfasser der Dramenvorlage) auch im Don Carlo: Der spanische Infant Don Carlo war in Wirklichkeit – wegen kaum am Inzest vorbeischrammenden Heiratspolitik der Habsburger – verblödet, tobsüchtig, durch und durch unsympathisch. Seine Stiefmutter Elisabeth von Valois war nie in ihn verliebt, der Großinquisitor hatte bei weitem nicht so viel Macht, wie Verdi es in seiner Oper stipulierte, eine Lichtgestalt wie der frei erfundene Posa hätte niemals das Vertrauen Philipps II. erringen können usw. Somit muss man den DON CARLO auch nicht zwingend in historischem Setting inszenieren – aber man kann. So geschehen vor 23 Jahren an der Bayerischen Staatsoper durch Jürgen Rose, dessen Produktion aus dem Jahr 2000 nun wieder neu aufgenommen wurde. Jürgen Rose, der renommierte Kostüm- und Bühnenbildner, der zu Beginn seiner Karriere die Ballette John Crankos und John Neumeiers ausgestattet hatte, im Opernbereich mit Regiegrössen wie Götz Friedrich (TANNHÄUSER in Bayreuth) und August Everding zusammengearbeitet hatte und seit den Neunzigerjahren auch selbst inszeniert, hatte nun den DON CARLO in seinem eigenen Bühnenbild und mit von ihm entworfenen Kostümen und dem selbst konzipierten Lichtdesign ganz exakt im Spanien des 16. Jahrhunderts angesiedelt.
Auf den Bühnen sehen wir einen kargen, sich nach hinten verengenden (sehr sängerfreundlichen!) Raum, die Wände sind fast schwarz, hohe Türen auf der rechten Seite ermöglichen Auftritte oder lassen indirektes Licht hereinscheinen. Links lehnt ein Cellini nachempfundenes, riesiges marmornes Kruzifix an der Wand (wie es Philipp II. in seiner kargen Sterbezelle hatte). Die Kostüme sind rabenschwarz – so wie es der spanische Monarch seit dem Tod seines Vaters, Kaiser Karl V., wollte. Ein wenig Farbe kommt einzig in zwei Szenen vor: Beim ersten Auftritt der maurischen Prinzessin Eboli, wo die Hofdamen mit kostbaren Tüchern zur Schleierarie wedeln und vor allem beim Autodafé, wo der Prozessionsumzug eine katholische Farbenpracht offenbart, deren überbordender, Übelkeit erregender Kitsch jeden Semana-Santa-Umzug vor Neid erblassen liesse. Eine Machtdemonstration mit Kruzifixen, Madonnen, Engeln, Pietà-Figuren, Kerzen und den spanischen Spitzhauben-Roben der Nazarenos. Auch der Mönch, der am Ende als Erscheinung Karls V. einen Deus ex Machina verkörpert, glänzt ganz in Gold und Purpur. Obwohl dieses permanente Zwielicht die Augen ermüdet – immerhin dauert der Abend über viereinhalb Stunden, da die fünfaktige Modena-Fassung und zusätzlich das um die Szene Philipp-Carlo erweiterte Finale IV aus der Pariser Urfassung gespielt wird – folgt man dem Geschehen gebannt, auch wenn man oftmals durch das seitlich ins Dunkel hereinfallende Licht geblendet wird. Auf dem Zwischenvorhang ist ein Zurbarán nachgebildetes Gemälde eines Mönchs zu sehen, der einen Totenschädel in den Händen trägt. Entstanden ist ein überaus stimmiges Gesamtkonzept mit exzellenter Personenführung (szenische Mitarbeit: Franziska Severin), einer Personenführung, die den SängerInnen auch die Ruhe und die Zeit gibt, zur stimmlichen Entfaltung. Der inzwischen 86jährige Jürgen Rose durfte am Ende der Vorstellung den Jubel und die Dankbarkeit des Publikums für seine ganz in den Dienst des Werks gestellte Inszenierung persönlich entgegennehmen.
Trotz einiger Umbesetzungen (Warum scheinen die sich in diesem Jahr gegen Ende der Spielzeit zu häufen? Nicht nur in München zu beobachten.) versammelte die Bayerische Staatsoper ein beeindruckendes Ensemble für diese letzte Vorstellung der diesjährigen Festspiele auf der Bühne. Um keinen Ranglisten-Kult aufkommen zu lassen, werde ich sie in der Reihenfolge des Besetzungszettels würdigen. John Relyea (für Ildar Abdrazhakov, der vielleicht aufgrund des Drucks – ihm wird von einigen Kreisen Putin-Nähe vorgeworfen – absagen musste) sang einen tiefgründigen, autoritären, aber auch nachdenklichen Philipp II. Er zeigte einen äußerlich harten, aber innerlich doch empfindsamen Herrscher. Gerade in seiner großen Szene Ella giammai m’amò konnte er ein ergreifendes Seelenbild offenbaren, aber auch in der zum Glück aus der Urfassung übernommenen Szene mit seinem Sohn Carlo an der Leiche Posas erlebte man einen Vater, der die Nähe zum entfremdeten Sohn (vergeblich) sucht. Charles Castronovo ist dieser Carlo: Im Fontainebleau-Akt (der als Traum eines Gejagten dargestellt wird) erleben wir den jungen, vom Blitz der ersten Liebe getroffenen Mann.
Danach, als Elisabetta von Valois aus Staatsräson an den spanischen König, also Carlos Vater, verschachert worden war, stellt Castronovo den gebrochenen Mann sehr eindringlich dar, noch immer in seine (nun) Stiefmutter verliebt, von Posa zur neuen Aufgabe als Unterstützer der aufständischen Flandren gedrängt. Castronovo setzt seinen schön timbrierten Tenor sehr differenziert ein, dringt jedoch in den Ensembles gegen die ganz grosse Lautstärke seiner Partner nicht immer durch. Sehr gut, dass er trotzdem nicht forciert, der schönen Kantilene treu bleibt. Boris Pinkhasovich (für Ludovic Tézier) gibt einen eindringlichen Rodrigo, Marquis de Posa. Seine Freundschaftsschwüre zusammen mit Don Carlo sind von emphatischer Kraft, seine Sterbeszene überaus bewegend. In den Szenen mit dem König, mit Eboli oder Elisabetta begeistert sein kerniger Bariton mit grossem Atem und Strahlkraft. Dmitry Ulyanov ist ein rabenschwarz klingender Grossinquisitor, furchterregend, abscheulich, aber faszinierend in seiner Bassgewalt. So muss das Duell zweier grandioser Bassstimmen in der Szene im Schlafgemach Philipps klingen!!! Alexander Köpeczi (der am Vorabend noch einen tollen Ramfis gesungen hatte) beeindruckt mit seinem sonor strömenden Bass auch in seinen beiden eindringlichen Auftritten als Mönch/Karl V. Maria Agresta ist eine ganz fantastische Elisabetta, zeigt den Leidensweg dieser bemitleidenswerten Schachfigur der Männer auf dem Brett der Weltppolitik mit grossartiger Einfühlsamkeit und wunderbarer Stimme und auch mit Stolz: Im Fontainebleau-Akt das junge, unerfahrene Mädchen, das innerhalb weniger Sekunden Reife zeigen muss und dem Frieden zuliebe in die Heirat mit Philipp einwilligt, nicht dem Wunsch ihres Herzens folgen kann (darf). Sie hat im weiteren Verlauf des Abends ganz starke Auftritte: Beim von Philipp brutal erzwungenen, berührend interpretierten Abschied von ihrer Vertrauten (der Gräfin von Aremberg), beim emotionalen Ausbruch im Duett mit Carlo im zweiten Akt, den „Giustizia“ – Rufen im vierten Akt, dem nachfolgenden so wunderbar komponierten Quartett (eine der ergreifendsten Stellen der Oper) und selbstverständlich in ihrer herausragend gestalteten grossen Soloszene Tu che le vanità und dem nachfolgenden Duett mit Carlo im fünften Akt. Clémentine Margaine ist eine stimmliche Wucht. Ihre Arie der Eboli im vierten Akt, dieses unter die Haut gehende Geständis ihrer fatalen Intrige, führte an diesem Abend zu einer Explosin des Applauses. Was für eine Stimme: Riesig, scheinbar ohne dynamische Grenzen, doch stets kontrolliert, nie schrill oder gar hysterisch klingend, immer gerundet, Höhen, Mittellage und Tiefen wie aus einem Guss. Dazu besitzt sie auch die Leichtigkeit für die sarazenische Schleier-Arie Nei giardin del bello saracin ostello, darin unterstützt und bereichert durch die weiche, biegsame Stimme von Erika Baikoff (anstelle von Mirjam Mesak) als Tebaldo. Eine wirkliche Offenbarung ist der lichte Sopran von Jessica Niles als Stimme vom Himmel am Ende des Autodafé-Bildes – da hat Verdi zwar einen geschmacklich vielleicht fragwürdigen, nichtsdestotrotz effektvollen Einfall gehabt. Galeano Salas als Lerma/Herold und die sehr schön harmonierenden Stimmen von Christian Rieger, Andrew Hamilton, Thomas Mole, Daniel Noyola, Roman Chabaranok und Gabriel Rollinson als flandrische Deputierte ergänzen das exzellente Ensemble auf ebenbürtigem Niveau. Auch der Bayerische Staatsopernchor und der Extrachor bereichern die Tableaux (Szene mit Eboli im Garten, Kloster und vor allem Autodafé) mit vokaler Fülle und klanglicher Pracht.
Am Pult des mit vielen kammermusikalischen Subtilitäten aufwartenden Bayerischen Staatsorchesters stand (wie am Vorabend bei AIDA) der erste Gastdirigent der Staatsoper (und Musikdirektor der Opéra de Lyon), Daniele Rustioni. Unter seiner mitatmenden Stabführung konnten sich Orchester und Sänger getragen fühlen und er verstand es, die düstere Atmosphäre dieser längsten Oper Verdis zu einem spannungsgeladenen Erlebnis werden zu lassen, das lange nachhallte.
Kaspar Sannemann, 30. August 2023
Don Carlo
Giuseppe Verdi
München Staatsoper
Besuchte Aufführung: 31. Juli 2023
Premiere: 2. Juli 2000
Regie: Jürgen Rose
Dirigat: Daniele Rustioni
Bayerisches Staatsorchester