Bayreuth: „Lohengrin“

(Premiere: 25.7.2018)

Symphonie in Blau oder Elsas Emanzipation

Direkt aus einem Bilderbuch der „Neuen Leipziger Schule“ scheint der neue Bayreuther „Lohengrin“ entsprungen zu sein. Das ist indes auch kein Wunder, denn das Malerehepaar Neo Rauch und Rosa Loy, das bei dieser Neuproduktion für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeichnete, gehören zu den Hauptvertretern dieser Stilrichtung der Malerei. Sieht man sich die Erzeugnisse der „Neuen Leipziger Schule“ einmal näher an, so fallen einem durchaus Ähnlichkeiten mit der aktuellen Bayreuther Neuinszenierung von Wagners dritter und letzter romantischer Oper ins Auge. Die Bilder sind recht konkret, uneindeutig und surrealistisch angehaucht. Sie wirken überzeitlich und regen den Betrachter zu Assoziationen an. Das sind allesamt Aspekte, die Rauch und Loy auch in das Bühnenbild des „Lohengrin einfließen lassen, das sie in ein wundervolles Blau hüllen. Damit treten sie in das Fahrwasser von Friedrich Nietzsche, für den die Musik zu diesem Werk „blau, von opiatischer, narkotischer Wirkung“ war, und Thomas Mann, der den „Lohengrin“ ebenfalls mit der Farbe Blau assoziierte. Man kann hier regelrecht von einer optischen Symphonie in Blau sprechen. Derart gefällt bereits das Interieur des ersten Aufzuges ausgezeichnet. Das Brautgemach des dritten Aufzuges sowie Elsas Kleid im Schlussbild sind orange, was die Komplementärfarbe von Blau ist. Hier werden bildlich gesehen auf gelungene Art und Weise zwei farbliche Gegensätze miteinander verbunden. Im zweiten Aufzug sieht man dann gemalte Wolken, verschiebbare Büsche und Wellen. Eine Schilflandschaft soll nach dem Verständnis von Rauch und Loy den Übergang vom Land zum Wasser und umgekehrt symbolisieren und gleichsam eine Trennlinie zwischen Traum und Realität darstellen. Ortrud und Telramund nehmen sich in diesem Umfeld wie winzige Insekten aus, wirken indes durchaus wie ein Teil des auf die Bayreuther Bühne gebrachten Gemäldes. Es sind schon gewaltige Bildeindrücke, die sich dem Auge des Zuschauers erschließen. Nachhaltig fühlt man sich beim Betrachten des Bühnenbildes an die Theatermalerei des 19. Jahrhunderts erinnert. Und weiter: Mit modernem Musiktheater hat diese Inszenierung nicht mehr viel zu tun. Vielmehr wird die Sage ernst genommen.

Hier dominiert das gelungene Bühnenbild eindeutig über die Regie des amerikanisch jüdischen Regisseurs Yuval Sharon, der für den ursprünglich vorgesehenen Alvis Hermanis eingesprungen ist. Relativ spät mit der Inszenierung betraut, sah sich Sharon mit dem bereits größtenteils fertigen Bühnenbild konfrontiert, hat sich indes trefflich in seine Aufgabe gefunden. Zusammen mit Rauch und Loy hat er eine Geschichte auf die Bühne gestellt, in der Elektrizität eine wesentliche Rolle spielt. Wenn sich der Vorhang hebt, fällt der Blick auf ein riesiges Transformatorgebäude, das die Bühne beherrscht. Die Gralsenergie stellt hier mithin elektrische Energie dar. Im zweiten Aufzug sieht man eine Miniaturausgabe des Umspannwerkes, aus dessen Fenster die engelhafte, silberhaarige Elsa herausschaut. Die Personen sind mit Flügeln ausgestattet, die denen von Bienen ähnlich sind, aber nach Bekunden der Bühnen- und Kostümbildner die von Motten sein sollen. Elektrizität erzeugt Licht, und Licht zieht die Motten an. Das ist die Begründung von Rauch und Loy für diesen Einfall. Auch Lohengrin werden am Ende des ersten Aufzuges solche Flügel angelegt.

Lohengrin erscheint als Elektriker in einem Schwanen-Ufo gleichsam aus einer anderen Welt. An die Stelle seines Schwertes tritt ein Blitz. Das von Statisten ausgeführte, in dieser Form entbehrlich anmutende Duell mit Telramund findet in luftigen Höhen statt. Den Sieg erringt der Schwanenritter, indem er seinem Kontrahenten einen Flügel abnimmt und ihm dadurch einen erheblichen Teil seiner Kraft raubt. Später wird der brabantische Graf durch einen Stromschlag getötet. Trotz seines Sieges ist Lohengrin aber zum Scheitern verurteilt. Obwohl mit einer Herkunft aus höheren Sphären gesegnet, ist er mit seinem Leben nicht zufrieden. Er sehnt sich aus den Gefilden des Grals heraus nach einem normalen menschlichen Leben, möchte Mensch unter Menschen sein, zum Menschen erlöst werden. Als Katalysator für diesen Wunsch dient ihm die Heirat mit Elsa. Voraussetzung dafür, dass sein Wunsch in Erfüllung geht, ist das Frageverbot, das er stellen muss. Das Wesen der Liebe besteht aber gerade darin, die Identität des anderen zu kennen. Das Vertrauen, dass Elsa Lohengrin entgegenbringt, wird von ihm schwer enttäuscht. Bereits am Ende des zweiten Aufzuges beginnt die Herzogstochter stark an ihrem Bräutigam zu zweifeln. Zu Beginn der Brautgemachszene kann man den nicht aus dem Inneren kommenden, sondern aus Bibeln vorgetragenen Liebesschwüren der beiden nicht so recht glauben. Da ist es nur natürlich, dass Elsa letzten Endes, von dem Schwanenritter an einen Isolator gefesselt, die verbotene Frage doch stellt. Die Idee der Liebe ist auf der ganzen Linie gescheitert. Das führt zu einer Schwächung Lohengrins. Dies und der Fakt, dass im Schlussbild das Transformatorgebäude verschwunden ist, sind die Gründe dafür, dass er die Gralserzählung im Liegen beginnt. Erst allmählich richtet er sich auf. Seine Abschiedsgeschenke an Elsa befinden sich in einem Tornister.

Elsa ist bei Sharon eine starke Frau, die sich aus den sie beengenden Verhältnissen zu befreien versucht. Einfühlsam wird hier die Emanzipation einer Frau geschildert, die sich die durchaus nicht böse, sondern sehr selbstbewusste, edle und recht dominant auftretende Ortrud als Vorbild nimmt. Sie hat ein offenes Ohr für die Einflüsterungen der Radbod-Tochter, deren Lohengrin betreffende Skepsis durchaus berechtigt ist. Mit ihrer Hilfe gelingt Elsa zum Schluss die erstrebte Selbstbefreiung. Nachvollziehbar ist, dass unter diesen Umständen sowohl Elsa als auch Ortrud am Ende überleben. Sie sind starke Frauen, während die schwächeren Männer tot zusammenbrechen. Gottfried erscheint als gesichtsloses grünes Männchen mit Hut – ein Sinnbild der Natur, zu der Elsa zurückkehrt. So weit so gut. Die Ideen Sharons konnten sich durchaus sehen lassen. Er hätte sie indes etwas spannender umsetzen können. Ein Meister in Sachen stringenter Personenregie ist er wahrlich nicht. Diese beschränkte sich allzu oft im bloßen Arrangement der Protagonisten. Und mit dem Chor hat er gar nichts anzufangen gewusst. Dieser stand meistens nur untätig herum. Selten wurden die Choristen in Bayreuth derart wenig gefordert wie unter diesem Regisseur. Bleibt zu hoffen, dass Sharon entsprechend dem Gedanken der Werkstatt Bayreuth im nächsten Jahr an seiner Inszenierung weiterarbeitet und dem Ganzen eine etwas flüssigere Note verleiht.

Eine Meisterleistung erbrachte Christian Thielemann am Pult. Mit dem „Lohengrin“ hat er nun sämtliche zehn Wagner-Werke, die in Bayreuth aufgeführt werden, in dem für das Publikum unsichtbaren „mystischen Abgrund“ dirigiert. Wieder einmal wurde man nicht satt, ihm und dem phantastisch aufgelegten und sehr klangschön aufspielenden Festspielorchester zuzuhören. Bereits das Vorspiel war einfach wunderbar anzuhören. Thielemann zeigte sich als Freund rascher Tempi. Für den ersten Aufzug benötigte er nur eine Stunde. Die musikalische Auslotung von Wagners romantischer Partitur gelang ihm großartig. Die Strukturen des Werkes wurden von dem Dirigenten aufs Beste herausgearbeitet. Darüber hinaus wartete er mit herrlichen Differenzierungen und einer Vielfalt an Farben auf. Geradezu berückend muteten die oftmals angeschlagenen Piani an. Den Sängern war er ein sehr umsichtiger Partner, der auf ihre Bedürfnisse große Rücksicht nahm.

Gesanglich bewegte sich die Aufführung auf hohem Niveau. Als Idealbesetzung für die Titelpartie erwies sich der für Roberto Alagna eingesprungene Piotr Beczala. Der Sänger verfügt über einen ungemeinen Schmelz in der Stimme, eine hervorragende Legatokultur, sichere Spitzentöne sowie eine phantastische italienische Technik, mit der er alle Klippen des Lohengrin meisterte. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass er mit seiner grandiosen Leistung nachhaltig in die Fußstapfen des großen Sandor Konja, des „Weltmeisters des Lohengrin“ (so Wieland Wagner), trat. Neben ihm war Anja Harteros eine ideale Elsa. Auch ihr ist technisch nicht das Geringste anzulasten. Sie sang mit frei ausschwingendem, sich nach oben prächtig öffnendem und ausdrucksstarkem Sopran, der zudem noch über eine große Farbpalette und viel Emotionalität verfügt. Voll zufrieden sein konnte man auch mit der Sängerin der Ortrud: Als Waltraud Meier beim Schlussapplaus vor dem Vorhang erschien, steigerte sich die Begeisterung des Publikums ins Unermessliche. Man war in hohem Maße beglückt, diese große Künstlerin nach achtzehn Jahren Abstinenz wieder in Bayreuth zu erleben. Hier haben wir es mit einer phantastischen Sängerdarstellerin zu tun, die sowohl stimmlich wie auch darstellerisch alle Register der Ortrud zog. Ein ungemein starkes Spiel und eine vorbildliche, von enormer Intensität getragene stimmliche Auslotung der Partie formten sich zu einer idealen Symbiose, die einen ganz in ihren Bann zog. Tomasz Konieczny verfügte als Telramund über viel Stimmkraft und eine sichere Höhe, sang insgesamt aber etwas unelegant und nicht sehr textverständlich. Ein prachtvoller, ebenfalls mit einer guten italienischen Technik gesegneter und sehr geradlinig singender König Heinrich war Georg Zeppenfeld. Die hohe Tessitura der Rolle wurde mit einfühlsamer Linienführung und hohem Ausdruck bravourös gemeistert. Einen volltönenden, prägnanten Bariton brachte Egils Silins für den Heerrufer mit. Solide waren die vier Edlen von Michael Gniffke, Eric Laporte, Kay Stiefermann und Timo Riihonen. Hervorragend entledigte sich der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor seiner Aufgabe.

Fazit: Eine Aufführung, deren Besuch sich schon wegen Thielemann und den Sängern gelohnt hat. Szenisch sollten im nächsten Jahr aber noch Verbesserungen vorgenommen werden.

Ludwig Steinbach, 12.8.2018

Bilder siehe unten Premierenbericht!