Fragebögen mag der Kollege nicht. Darum gebeten, eine Bilanz zu den Bayreuther Festspielen zu ziehen, hat er einen kompakten Fließtext verfaßt, mit dem wir unsere Serie der Spielzeit-Rückblicke beenden. In der kommenden Woche werden wir noch eine Übersicht über die einzelnen Folgen veröffentlichen.
Vergessen wir einmal die Brille – die nur knapp 20 Prozent der Besucher der neuen „Parsifal“-Inszenierung der Bayreuther Festspiele nutzen konnten. Denn was braucht man eine zweite Brille mit mehr oder weniger dekorativen Einspielungen AUF der Nase, wenn man Elīna Garanča VOR der Nase hat?
So war das eigentlich Sensationelle der diesjährigen Premiere nicht die Tatsache, dass hier erstmals in Bayreuth die Augmented Reality eingesetzt wurde. Innerhalb einer zwar modernen, doch relativ konventionellen Inszenierung Jay Scheibs, die auf den nachvollziehbaren Gedanken der Naturzerstörung (die „Wunde“ der Menschheit) und der Aufgabe irgendeiner Grals-Ideologie setzte, war die Kundry 2023 vokal und szenisch die geliebte Königin des Abends. Neben ihr standen mit Andreas Schager und Georg Zeppenfeld zwei verdiente Festspiel-Sänger, ohne die die Saison 2023 nicht realisierbar gewesen wäre. Auch als junger und reifer Siegfried konnte sich Schager wieder beweisen, während Zeppenfeld als Hunding, Daland und Marke die gewohnte hohe Festspielqualität in die Spiele brachte. So geriet der „Parsifal“, nicht zuletzt dank des Dirigats Pablo Heras-Casados, der die Partitur in ihren meditativ-lyrischen wie dramatischen Akzenten auslotete, zu einem musikalischen Ereignis.
Der neue Dirigent des „Ring“, Pietari Inkinen, konnte daran anknüpfen, indem er eine dynamisch zwar relativ zurückhaltende, aber sehr genaue und sehr poetische Lesart des „Ring“ anbot. Im zweiten Jahr hat die Inszenierung von Valentin Schwarz an Akzeptanz gewonnen – nach den Verbesserungen und Klärungen, die er heuer vorgenommen hatte, kann nicht mehr (was schon 2022 eine Legende war) vom „von Publikum und Kritik abgelehnten“ Ring, sondern von einer diskutierten, höchstens umstrittenen Inszenierung geredet werden. Auch die Reaktionen des ausländischen Publikums, die sich im einem öffentlichen Gespräch mit dem Regisseur zeigten, waren eher freundlich als negativ. Schwarz lichtete v.a. „Rheingold“ und „Götterdämmerung“: Ersteres, indem er die reale Symbolik des Kindes als Gold/Hort/Erben klärte, Letztere, indem er das Finale (mit dem am Strick baumelnden Wotan und der Beendigung seiner Geschichte) bewegend vollendete. Die Reaktionen reichten von wütenden Buhs bis zu tiefen Ergriffenheiten. Musikalisch-szenische Sieger waren Andraes Schagers Siegfried, trotz seiner vokalen Defizite Tomas Konieczny als Wotan und Wanderer, Christa Meyer als Fricka, schließlich Klaus Florian Vogt und Elisabeth Teige als gefeiertes Wälsungenpaar.
Vogt sang und spielte auch, in der dritten Wiederauflage von Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenierung, neben der wunderbaren Elisabeth Teige einen sympathisch jugendlichen Tannhäuser, der noch in der Rom-Erzählung das Niveau hielt, obwohl er hier nicht die gewöhnlichen Qualitäten eines schwerdramatischen Heldentenors in Anschlag bringen konnte. Wagners Musiktheater verlangt nicht allein „gute Sänger“, sondern in erster Linie gute Sänger/Darsteller – mit Konieczny und Vogt besaß das Bayreuther Publikum zwei vokale Grenzfälle, die aufgrund der Totalität ihrer Einsätze authentischer wirkten als manch Sänger, der allein durch seine Stimme über die bekannten Schwierigkeiten der Wagnerschen Monsterpartien zu triumphieren vermögen. Und spielen können sie, in Bayreuth!
Zu den großen Sängern der Festspiele 2023 gehörte auch Michael Volle, der in seinem Bayreuther Holländer-Debüt einen Kraftkerl von Holländer sang und ausagierte: kein Dämon, sondern ein Mann, der es eher mit dem Verrnichtungsschlag aufnimmt als sich dem Suizidgedanken zu ergeben. Besetzungen wie diese beweisen, dass man, wenn man von einer „Inszenierung“ redet, stets genau angeben muss, welche Persönlichkeit da gerade auf der Bühne steht; Holländer ist nicht gleich Holländer, mag er auch in den selben Kulissen stehen wie John Lundgren vor zwei Jahren.
Neu im „Tristan“-Ensemble war Clay Hilley, der die männliche Titelpartie nicht perfekt, aber ordentlich sang. Catherine Foster hat sich 2023 sowohl als Brünnhilde (in der „Walküre“ und der „Götterdämmerung“) als auch als Isolde in die Herzen der Zuhörer gesungen: in den ersten Partien mit einem kontrollierten und zu großen Steigerungen fähigen Einsatz, als Isolde mit einem herrlich strömenden Timbre. Nebenbei: im 2. Akt wurden 160 Textzeilen gestrichen, wenn auch nicht die, die Wagner selbst verbindlich angegeben hat. Schade um die Musik, aber dem Tenor hat‘s geholfen.
Bleibt zuletzt die Kinderoper „Parsifal“, die bei Jung und Alt grandios ankam, weil sie einfach gut gemacht wurde. Mit 50 Minuten reinem orchestralem Wagner wurde eine inhaltlich veränderte Short Version de luxe (mit einem neidischen Klingsor als Gegenspieler des Blumenreichs) geliefert, deren ökologischer „Habt-Euch-Lieb“-Gedanke von der Neuproduktion auf der großen Bühne gar nicht so weit entfernt war.
Das Einzige, was in diesem Jahr störte, waren die Reaktionen mancher Zuschauer: Es ist inzwischen in Bayreuth völlig üblich geworden, aushallende Schlussakkorde v.a. durch Blöken und die Pause zwischen dem letzten Ton und dem ersten Applaus zu zerstören. Dass sich den extrem unmusikalischen und unmusischen Schreiern nach den einzelnen „Ring“-Vorstellungen nicht wenige Bravo-Rufer entgegenstellten, möge ihnen zu denken geben. Durch die Brille betrachtet, war die Saison jedoch alles andere als buhwürdig. Sie war einfach nur gut.
Die Bilanz zog Frank Piontek.