Buchkritik: „Die letzten Tage der Oper“

„Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk.“ So lautet der erste Satz der Publi­kation „Die Oper“ (aus dem Jahre 1913) des bedeutenden jüdischen Musik-Schriftstellers Oscar Bie. Immer wieder wurde die Kunstform Oper, sei sie nun unmöglich oder nicht, totgesagt. Aber sie lebt noch immer. 1598 wurde die nachweislich erste Oper „Dafne“ von Jacopo Peri uraufgeführt. Sie ist allerdings nur noch fragmentarisch erhalten. 1607 hat der Hofkapellmeister Claudio Monteverdi im Palast Vin­cen­zo Gonzagas, des Herzogs von Mantua, seine „Fa­vola in musica“, L’Orfeo zum ersten Mal aufgeführt. Monteverdi beschritt mit seinem Orfeo in der musikalisch-dramatischen Schil­­derung menschlicher Freuden und Leiden einen Weg, der inzwischen ein vierhundert Jahre alter ist.

Die Oper diente der Staats-Re­prä­sentation, aber auch der Selbstdarstellung des Bürgertums. Sie gaukelt dem Zuschauer noch heute Träume vor, aber sie taugt auch für Gesellschaftskritik. Sie kann poetisch sein und weltfern, aber auch aufklärerisch und utopisch. In der Oper ist alles möglich.

Das eben macht das Faszinosum Oper aus, dass sie auf eine seltsame, unvorher­sehbare, unrealistische Art und Weise etwas in uns anspricht, was außerhalb unser kog­nitiven Sphäre liegt, aber „auf hohem Testosteronspiegel“, wie Carolyn Abbate und Roger Parker in ihrer bemerkenswerten Operngeschichte schrieben. Oper sei „manipulative Kommunikation“ jenseits des alltäglichen Lebens: „Im Sterben Lie­gende, die nichtsdestotrotz in den höchsten Tönen weitersingen, sind in der Oper das Normalste von der Welt.“ Man denke nur an Violetta in „La Traviata“.

Dass eben macht die Oper so spannend. Gerade wegen der oft krassen Diskrepanz zwischen „un­­seren Plau­sibilitäts­erfahrungen aus der wirklichen Welt und dem, was in der Oper statt­finde, übe diese Gattung … eine so ungebrochene Anziehungskraft auf uns aus.“ Carolyn Abbate und Roger Parker haben Recht mit ihrem Seitenhieb aufs so genannte Regie- oder Regisseurstheater, wenn sie alle Versuche, All­tägliches auf die Opern­bühne zu bringen, als fragwürdigen Populismus bezeichnen.

Damit wären wir beim Thema: Heute stehen plüschiger Nostalgie, oder sagen wir althergebrachte Konventionalität zum Teil abstrusen Neudeutungen gegenüber. Vielerorts ist es das Opernpublikum leid, immer wieder Gewalt und Blut, Nazimäntel, Urinale und Kühlschränke auf der Opernbühne zu sehen, oft mehr Kommentare zu den Werken, als die Werke selbst, oft nur Selbstdarstellungen von berufenen wie unberufenen, nicht selten jungen, unerfahrenen Regisseuren und sogar Quereinsteigern.

Man fragt sich: Ist Oper vom Aussterben bedroht? Hat sie noch ausreichend künstlerische Kraft und Energie oder ist sie vielmehr so etwas wie ein Dinosaurier, gegen den sie in ihrem ursprünglich vorwärtsgewandten Anliegen angekämpft hat?

Das heutige Operntheater hat zweifellos eine neue Lust am Obszönen und Vulgären entdeckt, und immer mehr Regisseure lieben es, wenn Kot spritzt, Urin fließt und Blut schießt, wenn nacktes Menschenfleisch sich zeigt, wenn der Geschlechtsakt in allen Variationen öffentlich vorgeführt wird, wenn Grausamkeit und Mord sichtbar sind. Das Vergnügen an extremen Grenzüber­schreitungen und die Schaulust der Grausamkeiten kennt keine Tabus mehr. Noch nie wurde das sadistische, voyeuristische Erregungs-Potential auf der Opernbühne so ausgereizt.

Jahrhundertelang glaubte man an die Kraft des Theaters, das nie versuchte, mit der Realität zu konkurrieren, sondern Wunsch und Wirklichkeit illusionistisch oder abstrahierend komprimierte, überhöhte, idealisierte oder kritisier­te.

Musiktheater war immer grenzüberschreitend, brach immer Tabus. Doch welche Tabus? Tabus brechen kann jeder. Zeitungen und Fernsehsendungen sind tagtäglich voll davon. – Sie spiegeln eins zu eins den Zustand unserer Zeit, deren Menschenbild, Werteorientierung und Umgangsformen mehr und mehr zu verrohen drohen. Warum muss Theater Sex und Gewalt des Alltags mit dem alltäglichen TV- und Videoclip-Realismus, mit derselben Vulgarität und Obszönität (auch Banalität) kommerzieller Pornographie widerspiegeln, was auf der Bühne meist lächerlich wirkt? Warum werden Opern-Libretti und -Partituren von vielen Regisseuren oftmals so bedenkenlos und arrogant ignoriert, verstümmelt, ja ad absurdum geführt? Und warum machen das die Sänger mit? Warum erheben so wenige Dirigenten, die es besser wissen müssten, Einspruch gegen solche Opernvergewaltigungen? Ist das Musiktheater wirklich an dem Punkt angelangt, wo es nur noch an die primitiven, atavistischen Instinkte einer Spaß- und Freizeitgesellschaft appelliert, einer Gesellschaft, die versucht, ihre wachsende Lustunfähigkeit und intellektuelle Verarmung dadurch aufzuhalten, dass sie auch noch die letzten Reste an Intimität in ihren Talkshows durchdiskutiert und jedermann offenbart? Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann setzt diese deprimierende Tatsache die Glaubwürdigkeit und Legitimation der ganzen Gattung Oper aufs Spiel.

Die Gattung Oper ist seit je die die festlichste wie subversivste, die phantasie­vollste und teuerste von allen Künsten, aber auch die utopischste wie zerbrech­lichste. Sie hat nur überlebt, weil sie das Bedürfnis ihres Publikums befriedigte, ein Bedürfnis eben nach mehr als nur nackter Alltagsspiegelung mit unzurei­chenden Mitteln, die mit Fernsehen und Video ohnehin nicht konkurrieren kann. Wenn die Oper nur noch dem Motto „Menschen, Tiere, Sensationen“ huldigt, wenn sie nur noch nach „Einschaltquoten“ unserer Mediengesellschaften schielt, die immer lapidarer und larmoyanter selbst gräulichste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Sprache bringt und ins Bild setzt, dann ist die Oper auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen. Gottlob gibt es noch und wieder Regisseure und Intendanten, die sich dem widersetzen!

Mehr denn je stellt sich die Frage nach der Zukunft der Oper. Erleben wir die letzten Tage der Oper? Dieser Frage ist eine opulente zweisprachige Publikation des renom­mierten Skyra-Verlags gewidmet, die Denise Wendel-Poray, Gert Korentschnig und Christian Kirchner herausgegeben haben. Da die Fertigstellung des Buches sich wegen der Covid-Pandemie um zwei Jahre verzögerte, sind auch Äuße­rungen von Persönlichkeiten (wie Christa Ludwig und Mariss Jansons) vertreten, die inzwischen verstorben sind.

Das Buch (ich rede von der deutschen Ausgabe) versucht eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation der Kunstform Oper. Es ist die umfangreichste, die je erschienen ist. Ziel des Sammelbandes, der rund 100 Essays umfasst, ist es, die Relevanz der Oper in der heutigen Welt zu erörtern und einen Blick auf mögliche Entwicklungen des Genres in der Zukunft zu werfen. Mehr und weniger prominente Autoren aus allen Wirkungsbereichen der Oper (Sänger und Dirigenten, Regisseure und Ausstatter), aber auch aus Philosophie, Bildender Kunst, Architektur, Film und Schauspiel wurden für befragte zum Thema Oper, darunter Marina Abramovic, Laurie Anderson, Cecilia Bartoli, Georg Baselitz, George Benjamin, Robert Carsen, Amira Casar, Martin Crimp, Peter Gelb, Markus Hinterhäuser, Mariss Jansons, Philippe Jordan, Jonas Kaufmann, William Kentridge, Christian Lacroix, Daniel Libeskind, Christa Ludwig, Katie Mitchell, Jonathan Meese, Riccardo Muti, Shirin Neshat, Hermann Nitsch, Hans Ulrich Obrist, Richard Peduzzi, Denis Podalydès, Thaddaeus Ropac, Bogdan Roscic, Tilda Swinton, Keith Warner und Robert Wilson.

So gegensätzliche Persönlichkeiten sollen ein weitgefächertes Panorama abbilden, kommen aber natürlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Startenor Jonas Kaufmann etwa sehnt sich nach den guten alten Zeiten des Ensemble­theaters. Und, ach ja: „Oper muss (für ihn) Emotion sein.“ Dirigent Mariss Jansons wünschte sich mehr Geldgeber. „Die Oper muss sich permanent verändern, um lebendig zu bleiben“, schreibt Cecilia Bartoli in ihrem Beitrag. Schön und gut, aber wie, wäre die Frage? Tilda Swinton geht es vor allem um die „visuelle Wirkung“ von Menschen auf der Bühne. Performance-Künstlerin Marina Abranović meint: „Es ist Zeit, die Regeln zu ändern.“ Eva Wagner-Pasquier erinnert nostalgisch an das seinerzeitige Protestgewitter um Götz Friedrichs „Tannhäuser“ und Patrice Chéreaus „Ring“. Das waren noch Zeiten! Markus Hinterhäuser beschwört die kathartische Wirkung von Elektra“ und „Salome“ bei den Salzburger Festspielen und meint damit: „Macht, Liebe, Hass, Begehren, Eifersucht“ und vor allem „die Zerrissenheit zwischen dem Leben an sich und dem, was man sich vom Leben erträumt. “ Das sei das Wesen der Oper. Unerschrocken und ehrlich wie immer sind die kritischen Anmerkungen zum heutigen System Oper der jüngst verstorbenen Christa Ludwig.

Die gesammelten Statements zum Thema Oper sind höchst divers. Es gibt essentielle wie banale, wichtige wie unwichtige, originelle wie langweilige Bekenntnisse. Was die Autoren und Autorinnen zum Thema zu sagen haben, ist von sehr unterschiedlicher Kompetenz und Bedeutung. Wegweisend, aufregend und neu ist das, was in diesem Buch zu lesen ist, nicht wirklich.

Natürlich, Viele bedauern die mangelnde Urteilsfähigkeit und Phantasie ihrer jüngeren Kollegen. Auch bühnenästhetische Fragen kommen zur Sprache. fundierte Kenntnisse über Gesang und Opern- wie Aufführungsge­schichte, so die Meinung Vieler, werden heute weitgehend ersetzt durch Abarbeitung eigener Obsessionen in der Regie, die Musik spiele oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Dem kann man nur zustimmen.

Auch der angesprochenen Tatsache, dass mindestens 25.000 Opernaufführungen jährlich stattfinden, aber meist immer di gleichen fünfzig Werke gespielt werden, die vor dem 20. Jahrhundert geschrieben wurden, kann man nur zustimmen. Georg Baselitz gesteht in dem Buch übrigens freimütig, kaum eine moderne Oper erlebt zu haben, der man beeindruckende Wirkung und nachhaltigen Erfolg bescheinigen könne.

Das Buch, dessen Titel auf das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus anspielt, sucht wie gesagt, nach Antworten auf die Frage, was das Genre Oper heute im 21. Jahrhundert ausmacht und wie es sich in Zukunft definieren könnte. Doch die Antworten sind dürftig.

Über eine Bündelung von nüchternen Analysen, gefühligen Liebeserklärungen, trockenen Schilderungen von Problem­bereichen und allenfalls vagen konstruk­tiven Ansätze geht das Buch nicht hinaus. Es gibt kluge Essays und harte Kritiken, optimistische Einwürfe und pessimistische Abrechnungen. Allerdings ist das Buch recht redundant und enthält– mit Verlaub gesagt – auch viel über­flüssiges Geschwätz. Eine Signalwirkung für die Branche und eine Vision von der Oper der Zukunft hat das Buch nicht.

Sie wird wohl irgendwie erhalten bleiben, die Kunstform Oper. Das Publikums­inte­resse jedenfalls ist nach wie vor ungebrochen, wie die Theaterstatistiken belegen, aber wie schon der Regisseur Alexander Kluge einst sagte: „Oper ist ein Kraftwerk der Gefühle und sollte als solches keiner Mode unterworfen werden.“ Alle weiteren Fragen bleiben offen.

Dieter David Scholz, 8. Januar 2024


Die letzten Tage der Oper
Herausgegeben von Denise Wendel-Poray, Gert Korentschnig und Christian Kircher

Skyra Verlag
ISBN 9788857245119
487 Seiten