Buchkritik: „Haydns Kopf“, Rolf Stemmle

„Es gibt hier in Wien ja noch eine Menge anderer vortrefflicher Komponisten“, sagt Haydn, als er noch lebt. „Ich erinnere an Salieri, Cherubini, Wranitzky, Weigl, Eybler, Hoffmeister und den ehrwürdigen Albrechtsberger! Und Beethoven macht von sich reden!“

Nein, „Haydns Kopf“ ist kein „Haydn-Roman“ – oder doch keiner, in dem der große Wiener Klassiker immerzu direkt auftritt. Und doch ist Rolf Stemmles bislang umfangreichstes Werk ein Buch, in dem die Wiener Kulturgeschichte einiger weniger Jahre vor und nach Haydns Tod die Hauptrolle spielt: nicht ohne die Musik und die Musiker. „Als er noch lebt?“ Die Geschichte ist wahr – und sie ist gruselig, denn noch nach seinem Tod hat Haydn als irdisches Überbleibsel eine makabre Rolle gespielt. Kurz nach seinem Tod raubten zwei Männer den Schädel des Verblichenen, um ihn erstens zu untersuchen und zweitens privat zu verwahren und zu verehren. Erst im 20. Jahrhundert konnten der Kopf mit seinem inzwischen nach Eisenstadt transferierten Leib wiedervereinigt werden. Der Schädel, in dem – genau weiß man’s ja trotz enormer Fortschritte auf dem Gebiet der Hirnforschung, immer noch nicht – einige der bedeutendsten und zukunftsweisendsten Werke seiner Zeit erdacht wurden, gibt dem Roman nun nicht nur seinen Titel. Stemmle weiß übrigens, wie eine Erzählung zu beginnen hat. „Schon zum dritten Mal kratzte sich Joseph Haydn am Hinterkopf“ – sinniger könnte ein Roman über die damalige Mode der Craniologie, also der Schädelforschung, nicht beginnen. Haydns Cranium fiel also in die Hände zweier Theater- und Kunstliebhaber, die sich zugleich für die Lehren des Franz Joseph Gall begeisterten, der davon ausging, dass die äußere Schädelform eng mit den mehr oder weniger künstlerischen Leistungen, Verhaltensweisen, scheinbaren Normalitäten und Abweichungen von diesen angenommenen Normen zusammenhängt. Joseph Karl Rosenbaum hinterließ nun glücklicherweise ein umfangreiches Tagebuch, das dem Romancier (der auch als Musiker hervortrat) viele wichtige Daten in die Hand gab, und der Strafhaus-Direktor Johann Nepomuk Peter, von dem wesentlich weniger bekannt ist, sind die wichtigsten Figuren im Wiener Panorama, das Stemmle mit scheinbar leichter, aber kulturgeschichtserfahrener Hand vor uns ausbreitet. Es treten, das ist für den Opernfreund interessant, Salieri, dessen Cesare in Farmacusa kurz erwähnt wird, und, in einer Hauptrolle, des Hofkapellmeisters Florian Gaßmanns Tochter, die mit Rosenbaum verheiratete Therese auf, auch Schauspielerinnen, Kammerfrauen, Ldeopoldstädter Gefängnisinsassen beiderlei Geschlechts, ein Theatersekretär, ein Pächter des Wiener Hoftheaters – und die umschwärmte Tragödin Betty Roose.

„Haydns Kopf“ steht sozusagen als pars pro toto im Titel eines Buchs, in dem – es ist alles belegt – noch andere Köpfe schon bald nach dem Tod der Gehängten, im Kindbett Verstorbenen oder sonstwie ums Leben gekommenen Opfer des Craniologischen Zirkels geraubt, untersucht und mehr oder weniger pietätvoll in schöner Umgebung ausgestellt werden. Stemmle schildert mit aller Drastik, wie der bereits vor drei Wochen beerdigte Schädel der Betty Roose aussieht, wie die Köpfe mazeriert, also ihres Fleischs entledigt und gebleicht werden: alles ohne Musik, denn die pflegt zwischen den Gängen serviert zu werden, als Requiem für Haydn, als Opern- und Singspielbesuch, wobei Stemmle keine Operngeschichte in Form eines Romans betreibt, sondern immer nur so viel andeutet, wie zur Atmosphäre und zur Handlung nötig sind. Und da der im Titel genannte Meister erst auf S. 414 stirbt, ist genügend Zeit, um eben diese Zeit und den Charakter des guten alten Mannes zu zeichnen. Haydns Kopf ist dem Autor also kein Spekulations- und Wissenschaftsobjekt, sondern die Hülle für das, was er zuvor als Persönlichkeit zeichnete.

Wer den Roman als Kriminalroman liest, wird also fehlgehen. Wer ihn als spannende Abhandlung über die seltsame Mentalität liest, der die Kopfdiebstähle ihre Grundlage verdankten, wird in „Haydns Kopf“ ein Werk über die Wiener Klassik entdecken, in dem die Politik und die Kunst, die Wissenschaft, auch in Form von Experimenten mit diversen Flugapparaten, und die Aufklärung sich die Hand geben. Gleichbleibend aktuell bleibt die Frage, wie wir es mit dem Verhältnis von Stand und Vermögen, Gehirnentwickung und sozialen Zuständen halten. Die Schädelforscher um den Herrn Gall meinten nicht zu Unrecht, dass ihre wenn auch problematischen Forschungen letzten Endes auf eine Abschaffung des Erbadels hinausliefen; die Geschichte sollte ihnen auf andere Weise Recht geben. Mithineingemengt in die Diskurse: a bisserl Sex, die nötige Menge historisch beglaubigter crime und ein kurzweiliger Einblick in eine Wiener Kultur-, Zuchthaus- und Wissenschaftsgeschichte der späten Haydn-Zeit. Wer über dem zahlreichen Personal den Überblick zu verlieren droht, muss nicht verzweifeln, denn Stemmle hat seinem Roman, als wär’s ein russischer, ein Personenverzeichnis beigegeben.

„War es kurioser Ernst, war es ein tragischer Spaß am Rande eines Abgrunds, war es ein Versuch in dieser aufgeladenen Zeit durch Wahnsinn  die Luft einer schrankenlosen Sphäre einzuatmen? Sie wussten es nicht. Auch Rosenbaum wusste es nicht.“ Das Pathos dieser Sätze begegnet nur äußerst selten, auch wenn der Erzähler tief in das Innere seiner Hauptfiguren, den Privatsekretär eines Grafen Esterházy de Galántha und seine Frau sowie den Gefängnisdirektor und seine zweite Ehefrau, hineinhorcht. Die „Schurken-Geschichte“ ist denn doch wesentlich mehr als ein auf gespenstische Weise amüsantes Gaunerstück.

PS: Fast wie im Nebenbei bekommt der opernaffine Leser auch Lust, sich das eine oder andere Stück anzuhören. Die Ouvertüre zur Salieri-Oper ist schon mal gar nicht schlecht …

Frank Piontek, 8. Oktober 2024


Rolf Stemmle: Haydns Kopf. Eine Schurken-Geschichte aus der Zeit der Wiener Klassik
539 Seiten
22 Euro