CD: „Charles Ives“, Anniversary Edition

Am 20. Oktober 2024 jährt sich der Geburtstag des amerikanischen Organisten, Komponisten und erfolgreichen Geschäftsmannes Charles Ives zum 150. Mal. Von einem seiner wirklichen Kenner, Goddard Lieberson, als extrem komplizierte Persönlichkeit und genuin exzentrisch im besten Sinne des Wortes beschrieben, geht für mich von diesem Mann und seinen Klangvisionen eine irrlichternde Aura der Wahrhaftigkeit und Unverstelltheit aus. Keiner war weniger auf Effekt und Gefallen wollen, auf Wohlklang und Musikschreiben im Sinne von Regeln-Befolgen aus. Besonders die deutschen Vorschriften predigenden Vertreter im Kompositionsunterricht gingen ihm auf die Nerven mit ihrem ewigen Große-Kunst-Gerede und stereotypen Kontrapunktübungen. Regeln waren aus seiner Sicht doch nichts anderes, als um die „Ohren und Gemüter der Studenten einzuwickeln, wie es alte Ladys mit ihren Haaren tun.“

Humor hatte er, dieser Charles Ives, der als Sohn eines Musikers aus Connecticut auf die Welt kam. Der Vater war Bandmaster einer Blasmusikkapelle in Danbury, der kleine Charles durfte mittrommeln. Da übte er auf dem Gummideckel einer Käsebox oder durch taktiles Malträtieren des Klaviers. Der Vater, wohl ein außerordentlicher Geist, färbte auf den Sohn mit seinen schrägen Klangerprobungen in Vierteltönen ab. Mit vierzehn Jahren hatte der junge Ives seinen ersten professionellen Job als Organist an der Zweiten Congregational Church. Nach der Highschool ging es an die Universität nach Yale, wo er bei Professor Horatio Parker studierte, sich an ihm rieb wie ihn bewunderte.

Der Vater starb früh, Charles musste sich einen Brotberuf in einem Versicherungsunternehmen („five dollars a week“) suchen, denn von „seiner“ Musik zu leben, war nicht drin.  Mit Julian S. Maverick als Partner zog er ein eigenes Lebensversicherungsbusiness (Mutual Life Insurance Company) auf. Für die nächsten 20 Jahre ging das so: Tagsüber arbeitete er hart an seinen Geschäften, in der Freizeit schrieb er Musik, wie es ihm passte. Niemand fragte ihn ernsthaft nach den Ergebnissen aus seinem Musiklabor, sein einziger Bruder hänselte ihn öfter mit der Frage, warum er keine hübschen kleinen Lieder schriebe. Genau das verachtete Ives und amüsierte sich über die „old ladies of both sexes, who only wanted their ears massaged with the same old music all the time.“

Erst nach der Veröffentlichung seiner zweiten Klaviersonate (Concord Sonata) und eines „Essays Before a Sonata“ 1921 wuchs das öffentliche Interesse am Schaffen von Ives. Henry Dixon Cowell, selbst Komponist und Pianist als auch charismatische Figur der amerikanischen Musikavantgarde, sollte ab 1927 der große Promoter seiner Musik werden.

Ives wurde Teil einer progressiven Gruppe, die ihr Glück jenseits der Rigidität von Tradition suchte, und vor allem die amerikanische Musik von der europäischen Dominanz befreien wollte. Wichtig waren ihm und seinen Freunden das Begreifen von Musik als kreativ vorwärts gerichteter Vorgang, die Weiterentwicklung des musikalischen Ausdrucks in Richtung gesteigerter Komplexität mit mehr und ausgedehnteren Skalen, neuen Tonkombinationen, neuen Notenschlüsseln. Polytonalität und Dissonanzen, die sich auch einmal nicht auflösen, waren Teile der früh entwickelten neuen Richtung, die der Pionier Ives bereits einschlug, als Arnold Schoenberg noch in seiner spätromantischen Phase monströse Klangdickichte schuf. Ives hielt mit eigenbrötlerischen, wohl auch sperrigen Klängen und Rhythmen dagegen, von seinen Klassenkameraden mehr oder weniger liebevoll als „resident disturbances“ (=Lärmbelästigung der Mitbewohner) auf die Schaufel genommen.  

Der Weg erwies sich für den jeglichem Kunstkommerz abholden Ives erfolgreich. Er wurde für seine dritte Symphonie 1947 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Dann kam Leonard Bernstein, der viele der Werke dieses ersten großen amerikanischen Komponisten mit dem New York Philharmonic Orchestra einspielte.

Nach dem Rückzug aus dem Geschäftsleben diktierte dieser Idealist mit ausgeprägtem Interesse für die Probleme der Menschheit ab 1930 seine Memoiren, von denen Auszüge im umfangreichen, reich bebilderten Booklet der Edition abgedruckt sind.

Die nunmehr vorgelegte Box ist eine Wiederveröffentlichung einer vor fünfzig Jahren in Vinyl publizierten Box zum 100. Geburtstag des Komponisten. Wer es umfangreicher haben will, kann auf die ebenfalls jetzt erschienene 22 CD-Box „Charles Ives: Charles Ives – The RCA and Columbia Album Anthology (150th Anniversary)“ zurückgreifen.

Die Sony Anniversary Edition stützt sich auf eine Fülle an mehrheitlich in den 60-er und 70-er Jahren (das Album Nr. 4 „Ives spielt Ives“ mit einem dann und wann Laute von sich gebende Interpreten geht auf technisch der Entstehungszeit entsprechende Aufnahmen aus den 30-er und 40-er Jahren zurück) publizierten, künstlerisch authentisch wirkenden Aufnahmen. Alle Stücke werden im Booklet kurz von John Kirkpatrick erläutert. Die einzelnen Alben firmieren unter den zusammenfassenden Titeln „The many faces of Charles Ives“, „The Celestial Country“, „The things our fathers loved“, Ives plays Ives“ (Klavier) und „Charles Ives Remembered“ mit ca. 50 Erinnerungen an den Komponisten von Verwandten und Freunden (u.a. von Elliott Carter, Bernhard Herrmann, Richard und Chester Ives).

Wir lernen mit dieser Box den „ganzen Ives“ in schlüssig gewählten Ausschnitten kennen, die sehr gut das vermitteln, was wir heute an diesem Sonderling so schätzen (klangkosmische Visionen, Lieder) oder was in seiner intellektuellen Kompromisslosigkeit, faserschmeichelnde musikalische Kulinarik in Frage stellend, nach wie vor irritiert. Trotz oder gerade wegen der Kratzbürstigkeit und den Widerhaken eines Teils seiner stilistisch vielfältigen Musik geht davon eine spirituelle Klarheit, ein untrügliches Formbewusstsein und eine urwüchsige Kraft aus. Ives war der Wegbereiter einer wieder nach Europa rückwirkenden amerikanischen Avantgarde.

Wer es sachte angehen möchte, der beginne mit der Kantate „The Celestial Country“, die in einer Einspielung mit den Gregg Smith Singers vorliegt (CD 2). Dieses Album bietet noch vier von Gregg Smith fantastisch orchestrierte Lieder, die von Leopold Stokowski, einem America Symphony Orchestra und Chören aus dem Jahr 1967 gewohnt klanglich triumphierend interpretiert werden. Album zwei befasst sich mit dem Liedschaffen von Charles Ives, auch in deutscher Sprache. 25 Lieder sind es, von der Sopranistin Helen Boatwright (Klavier John Kirkpatrick) stilistisch auf den Punkt gesungen werden. Ives als Liedkomponist inspiriert immer wieder herausragende Sänger wie Roberta Alexander oder Gerald Finley, die vorzügliche Alben herausgegeben haben, wobei das traumwandlerische Beherrschen des Idioms der amerikanischen Sprache für das Gelingen essentiell ist.  

Inhalt der Box

CD 1 „The many Faces of Charles Ives“ – The Fourth of July aus Symphonie Nr. 5 „New England Holidays“; The unanswered Question; In Flanders Fields; Hymn Largo cantabile; The Pond; Variations on America; The Circus Band; General William Booth enters into Heaven

CD 2 The Celestial Country; 4 Lieder für Chor & Orchester

CD 3 „The Things our Fathers loved“ – Klavierlieder (Slow March; Kanon Not only in my lady’s eyes; There is a certain garden; On judges‘ walk; No more; The new river; The side show; West London; Luck and work; The one way; Peaks; Yellow leaves; A sea dirge; Widmung; Feldeinsamkeit; Resolution; Pictures; Mists; Incantation; September; The sea of sleep; Requiem; The things our fathers loved; Old home day;Down East)

CD 4 „Ives plays Ives“ – Charles Ives spielt eigene Klavierwerke – Concord Sonata (Auszüge); Improvisationen; Etüden

CD 5 „Charles Ives remembered“ – Vivian Perlis im Interview mit Bernard Herrmann, Bigelow Ives, Elliott Carter, John Kirkpatrick, Richard Ives u. a.

Fazit: Für aufgeschossene musikhistorisch Interessierte, die ihren Radius erweitern wollen, eine gute Gelegenheit. Das 80-seitige Booklet ist besonders durch die kluge Einführung von Vivian Perlis und den umfänglichen, teils (aber)witzigen wie sarkastischen Anmerkungen von Charles Ives, aus seinen „Memos“ zitiert, eine Fundquelle erster Güte, um Wichtiges über die streitbare Persönlichkeit und das Werk dieses so individuellen wie typisch amerikanischen, klangästhetisch disruptiven Tonsetzers zu erfahren.

Ingobert Waltenberger, 20. Oktober 2024

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online


CD-Box
CHARLES IVES THE ANNIVERSARY EDITION

Sony. Musikalische Experimente eines eigenbrötlerischen Genies