Eine große, blaugrüne Iris blickt den Betrachter an, der das Booklet zu Emanuel Melchiors CD mit Bachs Goldberg-Variationen und zwei Beispielen aus seiner Kunst der Fuge aufschlägt. Ist das tatsächlich ein Blick oder scheint man vielmehr beim längeren Betrachten ins Zentrum der Pupille hineingezogen zu werden, wie in ein schwarzes Loch, das die irdischen Naturgesetze außer Kraft setzt?
In der Tat sollte man sich hineinziehen lassen, und zwar in die Welt des eigenen Inneren und dem Mikro-Universum von Bachs Goldberg-Variationen – am besten beim Anhören der Interpretation dieses Pianisten. Der erklärt den Sinn des Bildes, denn diese übergroße Iris steht für das „innere Auge“, das Melchior als zusätzlichen Sinn im menschlichen Bewußtsein empfindet: „Es ermöglicht, Entscheidungen zu treffen und kreativ beziehungsweise rational zu handeln oder zu denken. Dieser abstrakte Sinn kann als Geburt des Geistes und auch als Instinkt betrachtet werden“. Das beschworene „innere Auge“ ermöglicht seiner Überzeugung nach die „Erzeugung und Rezeption von Musik, der Freude“.
Wir befinden uns also an einer Schnittstelle zwischen ratio und emotio, zwischen Bewußtem und Un- oder Unterbewußtem. Das ist hochinteressant, denn Bach steht ja eher für das mathematisch-rationale Moment, für Maß und eine gewisse Strenge, vor allem aber für ein metaphysisches Streben nach dem Göttlichen, das sich über das Individuum erhebt. Es gibt sogar eine Studie an der University of Pennsylvania, in der mit Methoden aus der Informationstheorie die Bach´sche Musik analysiert wurde. Die Initiatoren sehen die ausgeprägte mathematische Struktur von Bachs Musik als einen Grund ihrer Beliebtheit über Jahrhunderte hinweg. Und offenbar ist es genau die ausgewogene Mischung aus Berechenbarem und Überraschendem, die für den Erfolg eines Musikstücks verantwortlich sein, und die sowohl intellektuell als auch intuitiv wahrgenommen werden kann.
Soweit zu den Schnittstellen und zurück zu Melchiors Verständnis von Bach, vor allem aber seiner Interpretation der Goldberg-Variationen. Der Pianist spielt ganz bewußt mit ebendiesen Polen des (scheinbar) Berechenbaren und den Überraschungsmomenten, und das tut der Einspielung gut. Klar, man hat in den vergangenen Jahrzehnten ja einiges an Interpretationen gehört, von den beiden kanonischen eines Glenn Gould über Grigori Sokolow, András Schiff, Mischa Maisky, Ragna Schirmer, Lang Lang oder Víkingur Olafsson, um nur die bekanntesten zu nennen. Da fällt es schwer, einen neuen Meilenstein hinzuzusetzen, ohne sich krampfhaft um eine revolutionäre Neuerung abzumühen.
Aber eben das Mühelose prägt Melchiors Goldberg-Variationen und zudem das Überraschende. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nach einer fast onkelhaft behäbigen Aria legt Melchior eine der schnellsten Variationen Nr. 1 der Einspielungsgeschichte hin, in beeindruckender Virtuosität. Manche Stücke haben fast etwas jazzig-beschwingtes, als hätte hier ein Benny Goodman die Klarinette mit dem Pianoforte vertauscht.
Bei allen perlenden Läufen und Arpeggien bleibt Melchior immer exakt; da wird trotz des mitunter halsbrecherischen Tempos nichts verhuscht, denn der Pianist nimmt jede Note ernst.
Es macht Freude zu hören, wie er beispielsweise die Verzierungen in Variation 6 gestaltet, ohne sich dabei aber mehr als nötig aufzuhalten; das sind ornamentale Kleinode, aber immer der Idee des Ganzen untergeordnet. Oder die Fugenausarbeitung in Nr. 9 – da wird die verschachtelte Konstruktion analytisch ausgeleuchtet, ohne in akademische Kühle zu verfallen. Das gilt auch für Variation 11, in der die kristallene Klarheit anmutig zutage tritt. Melchior erlaubt sich bei im Tempo zurückgenommenen Stücken wie der Variation 13 ein Innehalten, ohne zu gemächlich zu werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die rascheren Abteilungen besonders lebhaft und frisch, hier insbesondere die Folgevariation.
Die Moll-Stücke wie die Variation 15 oder ganz besonders Nr. 25, die ja schon durch ihre Länge eine Sonderstellung innehat, gemahnen etwas an barocke Trauermusik und entwickeln eine intime In-Sich-Gekehrtheit. Danach läßt Melchior wieder die lebhaften Springquellen sprudeln und beherrscht dabei souverän auch die ganz schnellen Passagen.
Zwei Stücke aus der „Kunst der Fuge“ beschließen die Aufnahme. Mit wohl austariertem Tempo würdigt Melchior die nüchterne, klare Geschlossenheit und schlägt einen gemessen feierlichen Ton an.
Man ist bei dieser Wiedergabe oft an eine frühneuzeitliche Darstellung einer der Kardinaltugenden, der Mäßigung (temperantia) erinnert, und dem entspricht ganz das Schwarz-Weiß-Photo auf der Webseite des Pianisten (www.goldbergvariations.com) in der uneitlen, dienenden Haltung. Aus Melchiors Spiel spricht eine geradlinige Treue zum Werk und die – der Begriff sei hier mit einem Augenzwinkern erlaubt – wohltemperierte Balance aus Mäßigung und Wagnis in der Interpretation.
Wer sich einmal mit Ornamentik und Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, wird die landläufig oft synonyme Verwendung des Adjektivs „barock“ mit „überbordend“, „ausladend“ oder „üppig“ als meist wenig passend empfinden. Und so läßt Melchiors Wiedergabe auch an barocke Ornamentik denken, mit all ihrer Zierlichkeit, den Arabesken, aber immer innerhalb einer eben maßvollen Ordnung und zuweilen Strenge.
Mit hörbarer Differenziertheit und fernab gekünstelter Eitelkeit des Interpreten erklingen also auf dieser CD Bachs Werke, die so eine unmittelbare Wirkung entfalten. Um mit dem französischen Komponisten André Jolivet zu sprechen: „Die Musik muß nicht nur gehört werden. Sie muß atmen. Sie muß das Nervensystem erreichen und auf den Rhythmus des Herzens einwirken, auf das Gleichgewicht der inneren Organe, auf den muskulären Zustand. Sie muß auf natürliche Weise, nicht durch den Effekt geheuchelter Sentimentalität, sondern durch den Effekt ihrer eigenen Schwingungen: verändern, lenken und den inneren Antrieb verstärken.“ Das entspräche wohl auch Melchiors Auffassung; in jedem Falle charakterisiert es seine bemerkenswerte Interpretation.
Andreas Ströbl, 22. Dezember 2024
Johann Sebastian Bach:
Goldberg-Variationen
Die Kunst der Fuge: Contrapunctus I und VI
Emanuel Melchior, Klavier
Album erschienen 2024 bei Early Music Productions LLC.
Booklet mit Werkinformationen.
Die CD ist erhältlich über www.goldbergvariations.com und jpc.