CD: „Jessye Norman“, The Unreleased Masters

Wer das große Glück hatte, die einzigartige Jessye Norman live erleben zu dürfen, konnte sich ihrem Zauber, ihrer Präsenz und ihrer Ausstrahlung nicht entziehen. Sie hätte das örtliche Telefonbuch vortragen können, man hätte ihr zu Füßen gelegen. Sie selbst hingegen stand ihrer eigenen Leistung, geprägt vom Drang nach Perfektion, überaus kritisch gegenüber. Der Musikjournalist David Patrick Stearns schrieb in einem Nachruf für das Arts Journal 2019: „Die Last, Jessye Norman zu sein, dürfte beträchtlich gewesen sein, angesichts ihrer phänomenalen Begabung und so viel klugen Bewußtseins von deren Wert (….) was sich wohl besonders deutlich in ihrer Einstellung Aufnahmen gegenüber zeigt. Der Vorgang und die Dauerhaftigkeit von Schallplattenaufnahmen schienen ihr nie ganz zu liegen.“ Und so gab sie etliche Aufnahmen nur nach umfangreicher Nachbearbeitung oder eben gar nicht frei. Dieses haben jetzt ihre Erben getan und so liegen nun die bei Decca erschienenen „Unreleased Masters“ vor.

Ist es legitim, sich über die Entscheidung der Sängerin nach ihrem Tod hinwegzusetzen? Und haben Fans einen Anspruch auf jede Aufnahme, ja, jeden Ton der Künstlerin? Was sind die Motive der Veröffentlichung von Material, welches Jessye Norman selbst für nicht würdig dafür erachtete? Über all das ließe sich reichlich diskutieren. Aber was hat die Nachwelt denn nun von dieser Veröffentlichung?

Die drei CDs zeigen einmal mehr die Bandbreite des vielfältigen Repertoires der einzigartigen Sopranistin. Von einigen Stücken gibt es bereits die eine oder andere Aufnahme, nur weniges ist komplett neu. Aber die Auswahl bildet die große Wandelbarkeit Normans im zeitgemäßen Stil der jeweiligen Musik, ihre Interpretationskunst und auch ihren Umgang mit der jeweiligen Sprache ab. Ihre üppige, dunkel-warme Stimme, die sich ansatzlos zu strahlenden Höhen aufschwingen konnte, kannte scheinbar keine Grenzen. Diese setzte sich Jessye Norman selbst. Richard Wagners Musik lag ihr besonders, davon zeugen Einspielungen von Lohengrin, Parsifal und weitere. Zur Isolde konnte sie sich jedoch nicht durchringen. Angebote für diese Rolle lehnte sie aus Angst ab, nach dem fordernden ersten Akt nicht mehr genug Stimme für die beiden restlichen zu haben. Dennoch, vielleicht auch aus Verbundenheit mit Kurt Masur, kam es im Frühjahr 1998 zu Aufnahmen einiger Teile aus „Tristan und Isolde“. Mit Thomas Moser stand Norman ein in den 90er Jahren erfolgreicher und gefragter Heldentenor zur Seite. Die beiden harmonieren im großen Liebesduett des zweiten Aktes wunderbar, Mosers helle Stimme steht dem glühend-dunklen Sopran kontrastierend und doch passend gegenüber. Normans üppige Legato-Bögen, ihr leuchtender Ton und ihre leidenschaftliche Interpretation lassen wenige Schärfen in der Höhe ebenso schnell vergessen wie das etwas gleichförmige, nicht übermäßig inspirierte Dirigat Masurs. Ein Wermutstropfen in diesen Auszügen ist die deutliche Intonationsschwäche der Brangäne von Hanna Schwarz – wie konnte das passieren? Verschwenderisch luxuriös hingegen gerät die Besetzung des Seemanns im ersten Akt mit dem jungen Ian Bostridge.

Die Aufnahme der Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Kurt Masur aus dem Jahre 1983 gilt noch heute als Referenzeinspielung und ist für viele unüberbietbar. Auf der zweiten CD sind sie 15 Jahre später mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von James Levine in einem Live-Mitschnitt zu hören. Dieser breitet ihr einen üppigen orchestralen Klangteppich, auf den Jessye Norman den Text in besonderer Weise auslegt. Hier wie in den anschließenden Wesendonck-Liedern von Richard Wagner interpretiert sie die Worte nicht nur, sie formt jede Silbe, lebt die Stimmung und berührt damit ungemein. Als wäre die herrliche Musik nicht schon genug… Ihrem Zauber kann man sich nicht entziehen, wenngleich die Stimme eine deutlich andere geworden ist. Es fehlt ein wenig die Wärme, das Dunkle, das Glühende. Ob dieser Mitschnitt nun mit der Masur-Aufnahme gleichzieht, wie die Texte im Booklet suggerieren wollen, sei dahingestellt, auch weil die Abmischung von Orchester und Gesang nicht optimal ist.

Die dritte CD ist drei antiken Königinnen gewidmet und schlägt musikalisch den Bogen von Haydn über Berlioz zu Britten. In diesem Konzertmitschnitt aus dem Jahr 1994 wird die Sängerin vom Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Seiji Ozawa begleitet. Hier ist nach der Isolde erneut die bei aller königlichen Erhabenheit zu leidenschaftlichen Ausbrüchen fähige, liebende und verzweifelte Frau zu erleben. Beeindruckend, wie stilistisch sicher Jessye Norman sich durch diese drei so unterschiedlichen Rollen singt! In der aufwühlenden Konzertszene „Berenice, che fai“ von Joseph Haydn gestaltet die Sopranistin dramatisch die verzweifelt bis zum Wahn getriebene Berenice. Das vorwärts treibende Tempo bekommt der Arie hervorragend. Mit der Aufnahme der scène lyrique „Cléopâtre“ von Hector Berlioz war Jessye Norman seinerzeit nicht zufrieden, warum, bleibt ihr Geheimnis. Wild entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nimmt die Königin Abschied, lässt alle durchlebte Trauer und Demütigung hinter sich. Diese Szene scheint wie für Norman geschrieben, so sehr ist sie diese verzweifelte und doch am Ende abgeklärte Frau. Einen absoluten Höhepunkt stellt die abschließende Phaedra-Kantate von Benjamin Britten dar. Atemberaubend, wie die Sängerin der Wut der abgewiesenen Frau in ihren eruptiven Ausbrüchen ebenso wie in ihrer Demütigung ihre Stimme gibt.

Nicht alles in dieser Box ist also neu und ungehört und nicht alles ist brillant. Die Weigerung der Freigabe durch Jessye Norman mag aus ihrer perfektionistischen Sicht bei dem ein oder anderen Track durchaus verständlich sein. Aber um, auch im Sinne der Freunde und Liebhaber der Stimme Jessye Normans, mit der Strauss’schen Salome zu sprechen, „Allein, was tut’s?“. Hier wird ein weiteres Zeugnis ihrer großen, unvergeßlichen und unvergleichlichen Kunst vorgelegt und man verliert sich in den Gedanken, was alles noch möglich gewesen wäre, was man noch alles von ihr gern gehört hätte.

Die großartigen Bilder dieser schönen Königin auf den einzelnen CD-Covern und im mehrsprachigen Booklet tragen zur Freude an den „Unreleased Masters“ bei.

Regina Ströbl, 5. August 2023


DECCA, Art. Nr. 500699, 3 CDs
Erscheinungsdatum: 24. März 2023