Die Live-Aufnahme von Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“, dirigiert von Sir Colin Davis und aufgenommen am 15. und 16. Januar 1987 im Gasteig der Münchner Philharmonie, ist eine historische Perle, die das 75. Jubiläum des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks gebührend feiert. Diese bislang unveröffentlichte Aufnahme präsentiert eine maßstabsetzende Interpretation eines der bedeutendsten Werke der symphonischen Literatur. Sir Colin Davis, ein Gigant im Bereich der klassischen Musik und bekannt für seine unermessliche Kompetenz im Umgang mit Hector Berlioz‘ Werk, hat sein ganzes Leben lang die Musik dieses großen französischen Komponisten aufgeführt und mehrfach preisgekrönt aufgenommen. Von Anfang bis Ende zeigt diese Aufnahme Davis‘ tiefes Verständnis und seine Leidenschaft für Berlioz‘ Musik. Unter Davis‘ Leitung erstrahlt Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in einem neuen Licht. Seine langjährige Beschäftigung mit dem Werk und seine tiefgreifende Vertrautheit mit jeder Note und jedem Ausdruck verleihen der Interpretation deutliche Authentizität. Davis‘ Interpretation überzeugt durch die sorgfältige Balance zwischen Dramatik und Subtilität, wodurch er die emotionale Intensität des Werks mit beeindruckender Präzision einfängt. Von Anfang bis Ende zeigt Davis‘ Interpretation eine tiefe Verbindung zur Partitur und ein respektvolles Verständnis für die subtilen Nuancen des Werks. Der erste Satz setzt die Szene und den Ton des Stücks. Davis präsentiert eine relativ zurückhaltende Interpretation, wobei er die großen Emotionen für die letzten beiden Sätze aufspart. Er widersteht der Versuchung, in Hysterie zu verfallen, und ermöglicht so eine langsame, aber stetige Entwicklung der Spannung. Im zweiten Satz behält Davis einen stetigen intellektuellen Fokus bei und bietet einen kontrollierten, eleganten Walzer, der leichtfüßig daherkommt. Der dritte Satz setzt diese subtile Herangehensweise fort, wobei die Kommunikation zwischen der Oboe und dem Cor anglais sowie die gedämpften Paukenwirbel die Melancholie und Sinnlosigkeit einer potenziellen Beziehung betonen. Die Naturstimmungen werden von Davis mit Poesie herausgearbeitet. Im vierten Satz wird die steigende Aufregung der beobachtenden Massen beim Gang zur Hinrichtung hervorgehoben, während Davis geschickt darauf achtet, keine joviale Reise zur Hinrichtung zu inszenieren. Durch die Wiederholung des Eröffnungsabschnitts wird die Bedrohung des Anlasses richtig unterstrichen und am Ende beeindruckend gesteigert. Eine Stimmung der Bedrohung wird im fünften und letzten Satz mit einer Weigerung gehalten, ein schnelles Tempo anzunehmen. Hexen tanzen mit grausamer Freude, und die beeindruckenden Klangeigenschaften der Glocke verstärken die das Grauen des horrenden Treibens. Die Solo-Beiträge sind von entscheidender Bedeutung und werden von den herausragenden Musikern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks fabelhaft präsentiert. Im zweiten Satz bereichern zwei Harfen die Klanglandschaft und verleihen dem Walzer eine zauberhafte Atmosphäre. Im dritten Satz glänzen das Englischhorn, die Oboe und die Pauken mit ihren einfühlsamen Soli, die die Melancholie und Sinnlosigkeit einer potenziellen Beziehung betonen. Die Weite der Natur ist allgegenwärtig. Im vierten Satz treten die Fagotte, Blechbläser und Schlagzeug mit kraftvollen Soli hervor, die die steigende Aufregung der beobachtenden Massen bei der Hinrichtung unterstreichen. Im fünften und letzten Satz sorgen Glocken, große Trommel und Blechbläser für eine bedrohliche Atmosphäre. Die Klangkultur des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks ist absolut erstklassig und trägt wesentlich zum Erfolg dieser Aufnahme bei. Die reiche und nuancierte Klangpalette des Orchesters verleiht Berlioz‘ Musik viel theatralische Wirkung. Insgesamt bietet diese Aufnahme eine fesselnde Interpretation von Berlioz‘ „Symphonie fantastique“, die das revolutionäre Potenzial dieses Meisterwerks vollständig zur Geltung bringt.
Dirk Schauß, 18. April 2024
Hector Berlioz
Symphonie fantastique
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Colin Davis, Leitung
BR-Klassik 900220