Es tönt, bearbeitet für ein kleines Ensemble, so in den Raum, wie wir‘s gewohnt sind – aber plötzlich stutzen wir. Neue Töne fluten unversehens das Vorspiel, das Präludium zu Tristan und Isolde endet im spätromantischen Klangzauber. Der Bearbeiter traute sich etwas, als er seiner Transkription ganz am Ende eine eigene Note verlieh, indem er 24 Takte hinzu komponierte. 1882 sollte er für Wagner das erste Parsifal-Zwischenspiel verlängern: Engelbert Humperdinck, der dem Komponisten bei dessen letzten Festspielen als musikalischer Assistent zur Seite stand und später mit Hänsel und Gretel einen dauernden Opernwelterfolg komponierte.
Das bemerkenswerte Stück ist seit einigen Jahren bekannt, auch existiert inzwischen eine Einspielung des Werks in seiner originalen Gestalt als Opus für Streicherensemble und Klavier. Als solches eröffnet es eine Konzept-CD der KammerMusikKöln, die schlicht und etwas modisch The Wagner Project lautet. Doch wo immer noch der Inhalt wichtiger als die Verpackung ist, ist die Zusammenstellung und Folge ebenso bemerkenswert wie das Eingangsstück – denn über die Wesendonck-Lieder geht es zum Siegfried-Idyll, abschließend zu einer kleinen Auskoppelung dreier Lieder aus einer Art Zyklus aus Wagners erster Pariser Zeit. Tristan und die Wesendonck-Lieder, danach das Glücksstück aus der nächsten Schweizer Epoche, finalmente aber die Rückkehr zu einigen ungewöhnlichen melodies, die trotz mehrerer Einspielungen vielen Wagner-„Kennern“ unbekannt sein dürften: die Anlage ist so hintersinnig wie offensichtlich, so herkömmlich wie originell.
Dors mon enfant, Attente und Les Adieux de Marie Stuart: es gibt unter Wagners Nebenwerken vermutlich wenig andere Kompositionen, die lange Zeit schlechtere Rezensionen und den Vorwurf der Banalität auf sich zogen. „More clever than inspired“, nannte sie Adrian Corleonis. Für Wagnerkritiker wie Robert Gutman waren sie „minderwertig“, ja: „Wagners Beitrag zu dieser königlichen Gattung darf wohl der schlechteste genannt werden“. Gemeint war Les Adieux de Maria Stuart, aber getroffen werden sollte die ganze Reihe von acht Stücken, von denen sechs vollendet wurden. Sind sie auch äußerlich vollendet? Wagner selbst meinte später, dass er damals „kleine Arbeiten“ geschrieben habe, „deren ich mich nicht zu schämen habe“. „Diese Möchtegern-Schnulze verfehlt das Feuer und scheitert“, schrieb Adrian Corleonis über Les Adieux de Maria Stuart. Hat der Kritiker Recht? Gerade an diesem Stück kann man die Nähe zu den zeitgenössischen Opernnummern wahrnehmen, die es verständlich macht, wieso sich Wagner dem seinerzeit hochpopulären Thema der schottisch-englischen Königinnen näherte, das nicht allein durch Schillers Drama hochgehalten wurde. Berlioz hatte vor, eine Symphonie im Stil der Symphonie fantastique zu schreiben, betitelt Die letzten Augenblicke der Maria Stuart. Wer nun Wagners durchaus effektvolle Nummer in einer Kammerorchesterfassung hört, nimmt wahr, wie sehr Wagner in diesem Fall den Opern Giacomo Meyerbeers verpflichtet war. So sehr sich die anderen Pariser Lieder einer wirklichen Entwicklung verweigern, so sehr hat sich der Komponist hier den anderen französischen Liedkomponisten angenähert: Hector Berlioz, Meyerbeer, Félicien David und Hippolyte Monpou. Mit diesen Stücken hat sich Wagner aktiv mit der französischen Musikkultur auseinandergesetzt, um sich auf ein Niveau zu begeben, das – kompositionstechnisch – schon längst nicht mehr seines war, um doch in einer ihm fremden Sprache Brocken jenes Eigene zu integrieren, das in seiner Zukunftsmusik weiterentwickelt werden sollte. Interessanterweise aber war es die Beschäftigung mit den guten Dichtern (immerhin Ronsard, immerhin Béranger!), die Wagner zu Werken provozierte, die deshalb so faszinierend sind, weil wir in ihnen den Komponisten des Rienzi und des Fliegenden Holländer als einen Mann der Masken am Werk sehen.
Wer genau in die Neuaufnahme hinhört, nimmt tatsächlich den Vorschein späterer Motive wahr, die vielleicht schon deshalb nicht zufällig sind, weil Wagner ein musikalisches Elefantengedächtnis hatte und sich noch später mit den Pariser Liedern beschäftigt hat: „Attente“, bemerkte Wagners Biograph Glasenapp, sei „in seinem Hauptthema durch den gemeinsamen plastischen Zug des Spähens von der Warte mit Tristan verbunden (‚Und Kurwenal du, du sähst sie nicht?‘)“. Wichtiger sind die rein musikalischen Vorverweise. Les Adieux de Marie Stuart wurde 2007 von der Kammerphilharmonie Graubünden unter Marcus Bosch zum ersten Mal in einer von Andreas N. Tarkmann erstellten Fassung für Kammerorchester eingespielt; damals hatte man den reizvollen Eindruck, dass Wagner sich hier ausschließlich an Meyerbeer & Co. orientiert habe. Nun aber hören wir, dass in der schottischen Königin bereits ein Stück Elisabeth schlummert… Das macht: das langsamere Tempo, mit dem das in jedem Sinne gute Dutzend Musiker zwar einen weniger aufgeregteren Duktus realisiert, dafür aber schöne melodische und harmonische Nuancen serviert. Die zärtlich anmutende, von Simone Fontanelli aufgetragene Farbfassung trägt das ihre dazu bei, das Lied zwischen Salon und Opernhaus zu situieren. So macht es Freude, auch Mignonne und Dors, mon enfant mit liebevollen Zügen ausgestattet zu sehen. Und da mit Kathrin Zukowski ein ausnehmend klangschön und elegant artikulierender Sopran am Mikrophon stand, haben wir mit der Ersteinspielung der Lieder in diesen Orchesterfassungen eine wertvolle Bereicherung des lyrischen Wagner-Repertoires vor uns.
Die Wesendonck-Lieder sind dagegen weltbekannt, aber auch ihnen kann ein guter Bearbeiter noch Details abgewinnen, die vormals unbekannt waren, wobei die Frage gestellt werden muss, ob es wirklich notwendig ist, die fünf Stücke orchestral zu setzen. Der komplette Zyklus wurde zunächst von Felix Mottl, im 20. Jahrhundert von Hans Werner Henze bearbeitet, 2009 kam Tarkmanns Fassung heraus – Wagner selbst genügte es, Träume für ein Kammerorchester und eine Solo-Violine zu setzen. Hört man die Lieder im neuen Klanggewand, weiß man, dass, wenn man die Lieder schon bearbeitet, dem Zyklus eine kammermusikalische Fassung wesentlich angemessener ist als die große Orchesterpracht. Simone Fontanelli und die Musiker der KammerMusikKöln haben das Richtige getroffen, als sie die fünf Lieder in das genau durchhörbare Dunkel der Bläser und das Licht der Streicher tauchten – und Katrin Zukowski erweist sich auch hier als erstrangige Interpretin, der die Wortgenauigkeit und -Deutung ein Herzensanliegen ist.
Bleibt das Siegfried-Idyll in seiner originalen Erstfassung. Es strömt hier balsamisch und zart ins Ohr, die Solisten werden kenntlich gemacht und bilden zusammen einen sublimen Kammerorchesterklang. Das Geniewerk erweist sich vor den musikalisch gut Gemachten, doch nicht genialen melodies als Kontrast. Man sieht: zwar ist auch Wagner vom Himmel gefallen, doch auch er musste sich erst zu seiner persönlichen Sprache durcharbeiten. Es ist lehrreich – und musikgeschichtlich bewegend.
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Nur wer auch so etwas scheinbar „Abseitiges“, dabei immer wieder gern zu Hörendes wie die charmanten Pariser Lieder kennt, kennt den ganzen Wagner. The Wagner Project ist ein Geschenk an alle Wagner-Freunde, die den mehr oder weniger unbekannten frühen wie interessanten und den reifen Wagner auf eine gelegentlich etwas andere, doch stimmige Weise kennenlernen wollen.
Frank Piontek, 17. Juni 2024
The Wagner Project
KammerMusikKöln
Kathrin Zukowski, Sopran
Label: Avi (H’Art)