DVD: „Antikrist“, Rued Langgaard

Bei Rued Langgaards einziger Oper Antikrist, die jetzt bei dem Label Naxos auf DVD erschienen ist, handelt es sich um eine echte Rarität. Das ist ein hochinteressantes Werk, das in der der Aufzeichnung zugrunde liegenden Aufführung der Deutschen Oper Berlin mit Bravour auf die Bühne gebracht wurde. Die Einordnung dieses Werkes ist indes nicht ganz unstreitig. Strenggenommen handelt es sich dabei nicht um eine typische Oper, aber auch die Bezeichnung Oratorium trifft nicht den Kern des Ganzen. Zutreffend dürfte der Begriff Kirchenoper sein, wobei als Aufführungsort von Langgaard durchaus ein echtes Opernhaus und nicht etwa eine Kirche intendiert war.

Die Handlung ist schnell erzählt. Das gänzlich heruntergekommene Menschengeschlecht hat mit dem echten Glauben nichts mehr am Hut. Lucifer sieht seine Stunde gekommen und aktiviert den Antikrist. In Form unterschiedlicher Allegorien verleiht er ihm eine irdische Existenz. Gottes Stimme ist mit den Handlungen des Antikrist einverstanden und erlaubt ihm, sich den Menschen zu offenbaren. In Form der Allegorien der Rätselstimmung und deren Echo, des Mundes, der große Worte spricht, des Missmutes, der großen Hure, des Tieres in Scharlach und des Hasses gibt der Antikrist im Lauf der Handlung seine Lebensmaximen preis, bis schließlich das Jüngste Gericht hereinbricht. Lucifer erklärt Gott für tot und setzt nun an, die Lebenden und die Toten zu richten. Das ist indes den Absichten der Stimme Gottes diametral entgegengesetzt. Gott vernichtet den Antikrist und beendet damit dessen Herrschaft in der Welt. Die erlöste Menschheit lobt den Frieden Gottes.

Zur Bedeutung der Oper sei an dieser Stelle ein Passus aus dem Booklet zitiert: Der Antikrist ist ein philosophisch-religiöses Werk über den Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation und überhaupt eine Kritik des modernen ‚Lebensstils‘ und der modernen Mentalität. Die Oper ist eine Untergangsprophetie und eine Warnung vor Eigennutz, Hochmut und dem Verlust geistiger Werte. Ihre desillusionierte Botschaft lautet, Gesellschaft, Zivilisation und Kirche haben versagt, übrig bleibt nur noch eines, nämlich die persönliche Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott. Langgaard will sagen, dass die Musik imstande ist, den ‚Zeitgeist‘ auszudrücken und zugleich den Weg zum Göttlichen zu weisen.

Langgaard schrieb seine Kirchenoper, für die er selbst das Libretto verfasste, von 1921 bis 1924. Indes war seinem Werk, das auf dem im Jahre 1907 erschienenen gleichnamigen Buch von P. E. Benzon beruht, in der Folge wenig Glück beschieden. Immer wieder wurde es von den Bühnen und den Rundfunkanstalten abgelehnt. Daran änderte auch eine in den Jahren 1926 bis 1930 vorgenommene Umarbeitung seitens des Komponisten nichts. Zwar erfolgte im Jahre 1940 im Dänischen Rundfunk eine Präsentation des 5. und des 6. Bildes und des Endes. Erst in jüngerer Zeit begann man sich indes wirklich für das Stück zu interessieren. Im Jahre 1980 dirigierte Michael Schonwandt eine Aufnahme des Antikrist. Szenisch aus der Taufe gehoben wurde das Werk 1999 am Tiroler Landestheater Innsbruck. In Deutschland war das Stück zum ersten Mal vor einigen Jahren in Mainz zu erleben. Am 30. Januar 2022 fand schließlich die Premiere der Berliner Inszenierung statt, für deren Aufzeichnung dem Label Naxos großer Dank auszusprechen ist. Sind es doch gerade derartige Raritäten, die nachhaltig auf DVD gebannt gehören.

Die Musik hinterlässt einen großartigen Eindruck. Sie ist ein gefälliges Kind der Romantik, weist aber auch moderne Anklänge auf. Die Tonsprache ist recht tonal gehalten und weist Anklänge an Wagners Parsifal, Strauss‘ Salome, Schönbergs Gurrelieder und Korngolds Tote Stadt auf. Der Klangteppich ist äußerst opulent und von großer Dichte geprägt. Cirka ein Drittel der Oper kommt ohne Worte aus. Die orchestralen Zwischenspiele werden auf der DVD von Ballett-Tänzern geprägt, die der Choreograph Rob Fordeyn trefflich einstudiert hat. Stephan Zilias am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin dreht den Orchesterapparat zeitweise mächtig auf. Er dirigiert energisch und spannungsvoll und lotet die Facetten der reichhaltigen Partitur trefflich aus. Dabei ist er ebenfalls auf Transparenz bedacht.

Gelungen ist die Inszenierung von Ersan Mondtag, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet. Die Kreation der Kostüme teilt er sich mit Annika Lu. Mondtags Regiearbeit scheint in seiner gewaltigen und farbenreichen Opulenz voll und ganz einem expressionistischen Bilderbuch entsprungen zu sein. Außerdem dürften die Bilder von Ernst Ludwig Kirchner hier Pate gestanden haben. Das Ganze spielt sich auf einem Straßenzug mit Bar und Hotel ab. Irgendwann schwebt auch eine Luxuslimousine vom Schnürboden herab. Gekonnt nutzt der Regisseur die gesamte Tiefe der Bühne und leuchtet sie in den verschiedensten Farben aus. In diesem Ambiente treiben wahrliche Horrorgestalten ihr Unwesen, die größtenteils unbekleidet sind. Natürliche Nacktheit weist indes am Anfang und am Ende der Aufführung nur die von dem Schauspieler Jonas Grundner-Culemann verkörperte, als Mensch erscheinende Stimme Gottes auf. Ansonsten herrscht eine total abstrakte Nacktheit vor. Zahlreiche Zwitterwesen bevölkern die Bühne. So sieht man einen gehängten Menschensohn mit Vagina. Und die große Hure ist mit einem Penis ausgestattet, der ihr im Lauf der Handlung abgerissen wird. Die Spaltung der Gesellschaft wird vom Regisseur radikal beleuchtet, wobei er viele rätselhafte Aspekte mit einbezieht. Es ist ein ausgemachter Alptraum, in den Mondtag den Zuschauer hier versetzt und der sich erst zum Schluss hin auflöst. Insgesamt haben wir es hier mit einer durchaus gelungenen, interessanten und von einer flüssigen Personenregie geprägten farbenprächtigen Inszenierung zu tun.

Nun zu den Sängern: Thomas Lehman singt mit markantem, bestens italienisch fokussiertem Bariton einen ausgezeichneten Lucifer. Ihren volltönenden, warmen Mezzosopran bringt Irene Roberts für die Rätselstimmung mit. Ein stimmlich trefflich fundiertes Echo der Rätselstimmung ist Valeria Savinskaia. In gleicher Weise vokal tiefgründig gibt Maire Therese Carmack den Missmut. Mit einem flachen und jeder soliden Körperstütze abholden Tenor stattet Clemens Bieber den Mund, der große Worte spricht, aus. Etwas unterkühlt klingt die große Hure von Flurina Stucki. Da ist ihr das schon fast heldentenorale Tier in Scharlach von Aj Glueckert deutlich überlegen. Köstlich spielt Andrew Dickinson die Lüge, die er auch vortrefflich singt. Joel Allison ist ein profund intonierender Hass. Eine gute Leistung erbringt der von Jeremy Bines einstudierte Chor der Deutschen Oper Berlin.

Ludwig Steinbach, 24. August 2024


DVD: Antikrist
Rued Langgaard

Deutsche Oper Berlin
Inszenierung: Ersan Mondtag
Musikalische Leitung: Stephan Zilias

Naxos
Best.Nr.: 2110764
1 DVD