„Der Vorhang schließt sich über Licht und Schönheit“
Man wäre blöd und taub, würde man nicht erkennen, dass es sich beim „Wunder der Heliane“ um ein bemerkenswertes und hinreißendes Werk handelt, und doch… Oder anders gesagt: Wäre da nicht der 3. Akt!
Worum geht’s? Erich Wolfgang Korngold galt lange als „One-work-composer“, der mit der „Toten Stadt“ einen Welterfolg der 20er geschrieben hatte. Nach einer Renaissance in den 80er Jahren wird sie wieder häufiger auf den Bühnen gespielt. Dass Korngold noch weitere Opern geschrieben hatte, war zwar den Kennern bekannt, aber „Das Wunder der Heliane“ war bis vor relativ kurzer Zeit nur den Opernfreunden ein Begriff, die die nunmehr fast 30 Jahre alte Aufnahme kannten. Als 2018 eine Inszenierung des Werks an der Deutschen Oper Berlin herauskam, wo Anfang der 80er Jahre auch „Die tote Stadt“ in einer unvergesslichen Aufführung fröhliche Urständ feierte, war der Jubel groß. Kürzlich fanden einige konzertante Aufführungen in Bremen statt: auch sie bejubelt. Grund genug also, mal genau in das Stück hineinzuhören, um die Meinung zu überprüfen, dass „Das Wunder der Heliane“ „bedeutender“ als die „Tote Stadt“, ja: dass sie Korngolds „Hauptwerk“ sei, wie Marc Albrecht, der Dirigent der Berliner Aufführung, sagte. Der Komponist selbst war übrigens auch dieser Meinung.
Tut man mit derart großen Ausdrücken dem Werk einen Gefallen? Und vergleicht man hier nicht Äpfel mit Birnen? Dass Korngolds monumentale Oper nach nur wenigen Aufführungen das vorerst letzte Mal im Jahre 1930 gespielt wurde, bevor einige wenige Nachkriegsaufführungen das Werk vorerst versenkten, mag vielleicht doch mit dem Stück selbst und weniger mit den politischen Umständen zu tun haben, die die Aufführungen eines jüdischen Komponisten in Deutschland und Österreich unmöglich machten. Zugegeben: Die Partitur ist, gemessen an Strauss und Schreker, von erstem Rang. Korngolds Farbpalette war sensationell, seine Kunst, die Instrumente einschliesslich Klavier, Celesta, Harmonium, Orgel und Summchor zielgerecht einzusetzen, von höchster Delikatesse. Kam hinzu eine breitgefächerte, an die Tonalitätsgrenzen stoßende und bisweilen überschreitende Harmonik, gepaart mit einer verständlichen Melodik, die das Grundprinzip dessen, was Korngold als „Urkraft des Einfalls“ bezeichnete, doch nicht verriet. Insgesamt avancierter als die Partitur der „Toten Stadt“, näherte sie sich der Moderne von 1925, um doch mit den klangmalerischen Traditionen des Fin de siècle nicht zu brechen. Wer also damals „Die Frau ohne Schatten“ schon schätzte, konnte auch an der „Heliane“ sein Vergnügen finden: hier wie dort herrscht ein Symbolismus, der durch eine gleichsam spätromantische, auf höchstem technischem Niveau der modernen Instrumentationskunst und gerade noch tonal vermittelten Harmonik realisiert wird (vergessen wir einmal einen Moment die Schwierigkeiten der Defiition des Tonalität-Begriffs).
Dass die Oper damals, bei ihren Aufführungen in Hamburg und Wien, vom Erfolg von Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ überschattet wurde, war allerdings nur einer der Gründe für die mittel- und langfristige Erfolglosigkeit der Oper, die zunächst ihre Entstehungszeit nicht überlebte. Julius Korngold, der berüchtigte Vater des einstigen Wunderkinds, der seinen Sohn immer noch schützen zu müssen meinte, hat später selbst zugegeben, dass es seine Angriffe gegen Krenek waren, die zum Misserfolg der Oper beitrugen. Nicht nur bei den wichtigen Berliner Kritikern stieß des Kritikers Einsatz gegen Krenek auf Widerstand. Dass das Problem im Werk selbst begründet lag, mochte ihm nicht einfallen. Sechs von den 18 Theatern, die das Werk zur Aufführung angenommen hatten, winkten schliesslich auch aus organisatorischen Gründen ab: zu schwierig, zu aufwendig. Außerdem passte das Werk am Ende der 20er Jahre, in denen „Wozzeck“ die Messlatte für die moderne Oper enorm hochlegte, nicht mehr recht in die Zeit; gleiche Vorwürfe konnten Strauss und Hofmannsthal gemacht werden, als sie den „Frosch“ herausbrachten. Freilich entscheidet niemals die Zeit über Rang und Wert eines Werks. Von heute aus gesehen kann konstatiert werden, dass die „Heliane“ auf ihre Weise eine Dignität besitzt, die sie nicht einmal mit der „toten Stadt“ vergleichbar macht – auch wenn der Vergleich unausweichlich ist. Was also spricht für, was gegen diese Oper?
Stichwort: Fröhliche Urständ. Es ist das mystische Thema der Oper, das der bewegenden Tragödie des Nichtvergessenkönnens in der „Toten Stadt“ fremdartig gegenübersteht. Gewiss: Die Kernthese des Werks bleibt attraktiv, die Liebe soll alles richten, auch wenn die Liebe, die hier ausexerziert wird, sich überirdischer Hilfsmittel bedienen muss, um wirksam zu werden. Der Rest ist, fast wie bei Wagner, die „Erlösung“: wenn der auferstandene „Fremde“, der in einem Reich des Hasses in den Kerker geworfen wurde und sich zunächst selbst getötet hat, die Geliebte, die, vom Schwert ihres Mannes getroffen, gerade stirbt, aus dem Dunkel dieser Welt in einen Lichtdom hineinführt, wo alles alles gut ist. „Der Vorhang schließt sich über Licht und Schönheit“. Das Libretto basierte diesmal nicht auf einer halb surrealen Erzählung, sondern auf einem total surrealen Mysterienspiel. Was hier verhandelt wird, ist so realitätsfern, dass es nur sehr guten Regisseuren gelingen dürfte, den (möglicherweise…) realen Kern der in ihren Grundkonflikten so einfachen wie schlagkräftigen Geschichte herauszuschälen. Der Librettist Hans Müller hat damals einen Text geschrieben, der auf seine Weise 1925 sehr zeitgeistig war, indem er stark an die expressionistischen Exaltationen erinnert, die für die großen Stummfilme genau dieser Jahre typisch ist. Fritz Lang, der geniale Regisseur von „Metropolis“ und des „Nibelungen“-Doppels, hätte vielleicht einen großartigen Film nach diesem Skript realisieren können. Könnte man die Oper nicht in genau diesem Stil auf die Bühne bringen? Als die Nürnberger Oper kürzlich den „Nabucco“ in einer Inszenierung wiederaufführte, die sich den Schwarzweiß-Stummfilm als stilistisches Modell vorgesetzt hatte, war’s oberflächlich. Diese einschichtige Methode würde auch Korngolds höchst bewegter (und bewegender) Musik nicht gerecht werden, so sehr der Text und die Affekte auch in Richtung Stummfilmausdruck zielen. Also gilt es, die mystizistische Handlung ernst zu nehmen oder wie auch immer zu übersetzen.
Nun ist die Handlung Eines, die Musik etwas ganz Anderes. Nicht das Thema, sondern der Stil macht eine Oper zu einer guten (Beweis: Hätte der Frankfurter Kapellmeister Gustav Schmidt die Musik zum „Ring“ geschrieben, wüsste kein Mensch mehr, was der „Ring“ ist). Die Musik aber ist gut, weil sie packt. Und doch… Der unwillkürliche Vergleich mit der „Frau ohne Schatten“, der aufgrund der verwandten Ansprüche dieser beiden Ausnahmewerke gezogen werden kann, macht die Differenz deutlich: Strauss gönnt dem Hörer denn doch mehr Ruhepunkte, die die Kontraste befestigen. Korngold fällt zwar ungeheuer viel ein, aber schon die mehrmalige Verwendung des initialen, mächtig auftrumpfenden Hauptthemas verrät im Vergleich zu Straussens Opus vielleicht, ich bin mir da durchaus nicht sicher, trotz ihrer vielen kleinen Noten eine etwas schlichtere Ökonomie. Genauere Analysen der ausgefuchsten Partitur würden – wie im Fall der „Toten Stadt“ (ich verweise auf die Monographie von Arne Stollberg) – vermutlich belegen, dass Korngold hier mit allen Wassern der Motivarbeit gewaschen hat; dass er die Handlung um den bösen König, seine Frau und den Fremden, um Liebe und Selbstopfer, mit einer vitalen Theatermusik versah, steht außer Frage. Das Problem aber ist das der Maßlosigkeit: Wo immerzu die Musik sich dem Rausch ergibt, wird er bald gewöhnlich. Was aber die „Heliane“ letzten Endes rettet, ist der dritte Akt. In diesen 40 Minuten entfesselte Korngold alle Kräfte seines musiktheatralischen Ingeniums: beginnend beim packenden Vorspiel, über die „unwirklichen“ Bewegungen des Volks und seines extatischen Tanzes zur letzten „Arie“ der Heliane, die Auferstehung des Fremden und den Gang ins Licht. Verständlich, dass auch rein konzertante Aufführungen das Publikum zu Jubelstürmen hinrissen. Für musikalische Feinschmecker, für „Laien“ und „Fortgeschrittene“, bietet die Partitur in jedem Fall große Kostbarkeiten, die mit guten Inszenierungen nur gesteigert werden können.
Ist die „Heliane“ nun Korngolds „bedeutendstes“ Werk? Natürlich nicht; dies verhindert schon die unmittelbare Schlagkraft der „Toten Stadt“ mit ihren „Schlagern“ und ihrem ewig berührenden Thema von Liebe und Tod, Auferstehen und Vergessen, wobei das „Auferstehen“ hier in einem einfacheren, doch nicht banaleren Sinne thematisiert wird als in der „Heliane“. Sagen wir einfach so: Seien wir froh, dass Korngold nach der tief bewegenden „Toten Stadt“ auch die wunderschöne und musikalisch raffinierte „Heliane“ schrieb.
Frank Piontek, 4. Dezember 2023