Buchkritik: „Auch ich versteh die feine Kunst“ – Biographie über Rita Streich

Ein Buch von 670 Seiten über ein Leben von 67 Jahren, da dürfte dem Leser, was Vita und Karriere von Rita Streich betrifft, nichts verborgen und vorenthalten bleiben. Die als Wiener Nachtigall gefeierte Koloratursopranistin hatte selbst vor, eine Autobiographie zu schreiben, und bereits den Titel dazu ausgewählt. „Auch ich versteh‘ die feine Kunst“ sollte sie heißen, und so ist auch das Buch von Claudia Behn betitelt, obwohl Norina aus Donizettis Don Pasquale die Kunst der Verführung und nicht die das Operngesangs meint. Als Untertitel hat die Verfasserin „Biographie über die Koloratursopranistin Rita Streich“ gewählt.

Das Buch ist zunächst einmal chronologisch aufgebaut, beginnend mit den Vorfahren, natürlich besonders die Eltern berücksichtigend, wobei die russische Herkunft der Mutter, die den deutschen Kriegsgefangenen am Ende des 1. Weltkriegs heiratete und für den sibirischen Geburtsort und damit die Fast-Zweisprachigkeit der Sängerin verantwortlich ist. Bereits hier fällt auf, dass den Orten, an denen Streich weilte und sei es nur wenige Monate als Baby, eine große Aufmerksamkeit und viel Platz im Buch eingeräumt wird. Das trifft dann nach dem russischen Geburtsort auch auf Essen und Jena zu, wo die Familie in Deutschland lebte, ehe Rita Streich 1952 in den Westen Deutschlands übersiedelte. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal ihres viel jüngeren Bruders, der aus politischen Gründen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und vom Westen freigekauft worden war. Weniger  dürfte sich der gemeine Leser für das Schicksal der vielen Lehrerinnen, die Streichs Kindheit und Jugend mit prägten, interessieren, es sei denn, es handelt sich um die Gesangslehrerinnen, zu denen Maria Ivogün, Erna Berger und Willi Domgraf Fassbaender gehörten. Ob wichtig oder nicht für die Karriere der Buchheldin, es wird akribisch über Eintragungen in Telefon- oder Adressbüchern berichtet und keine Kritik auch über kleinste Auftritte wird unterschlagen, da ist die Autorin genauso akribisch wie der Gegenstand ihrer Bemühungen. Man darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass das Buch eine „wissenschaftliche Biographie“ ist, aber auch noch die letzte Wurzen einschließlich ihrer Lebensdaten aufzuführen, ist zu viel des Guten für den Leser, der dadurch manchmal den Faden und das Interesse verliert. Da am Schluss jeden Kapitels noch einmal eine Auflistung aller am jeweils abgehandelten Ort wie Berlin oder Wien stattgefundenen Vorstellungen mit allen Einzelheiten existiert, wäre die doppelte Erwähnung überflüssig gewesen, so überflüssig wie die Nennung der Uhrzeiten, zu denen die Vorstellungen stattfanden. Einige kleine Fehler haben sich übrigens auch eingeschlichen wie die Behauptung, Streich habe die Mignon gesungen, es war sicherlich die Philine, ein Hans Pick „sang“ nicht den Bassa, und auf den Berliner Straßen lagen auch nicht „die Toten und Verschütteten“, denn letztere waren unsichtbar in den Kellern der eingestürzten Häuser. Das Wenige, das auszusetzen ist, mindert kaum den Wert des Buches als schier unerschöpfliche Quelle nicht nur Rita Streich, sondern das gesamte Opernerleben ihrer Zeit betreffend.

Obwohl das wohl nicht die Zielsetzung des Buches ist, gewährt es einen umfassenden Einblick in die Art des Kritikschreibens, das vor einem „leise gerafften Spiel“ nicht zurückschreckt, seltsam betulich wirkt, aber auch mehr Fachkenntnis vermuten lässt als manche heutige Kritik.

Die Königin der Nacht und Zerbinetta sind die Rollen, die Rita Streichs Ruhm begründeten, die aber auch ständig die von manchen Kritikern genährte Angst aufflackern ließen, das Volumen der Stimme könne ihnen nicht genügen.

Neben den Kritiken ist der Briefwechsel mit vielen Zeitgenossen die Quelle, aus der die Verfasserin schöpft. Dazu kommen Auszüge aus den Memoiren anderer Künstler, so wird Tiana Lemnitz mehrfach und ausführlich zitiert. Am unverfälschtesten wohl charakterisiert Christa Ludwig die Soprankollegin.

Rita Streichs Wirken an allen drei Berliner Opernhäusern, in Wien, Salzburg, in den USA, Australien, Japan und in allen musikalischen Gattungen wird akribisch aufgeführt, so von den Liederabenden alle Nummern mitsamt der Opus-Angaben. Gastspielreisen, Einsingen, Lampenfieber, Klavierbegleiter und die beiden ganz Großen unter den Dirigenten, Furtwängler und Karajan sind Thema, leider zu den beiden Letzteren von der Sängerin nichts Erhellendes überliefert. Interessant sind die Ausführungen über die Uraufführung von Heino Erbses „Julietta“ nach Kleists Die Marquise von O. und der Briefwechsel zwischen Komponist und Sängerin während der Entstehung des Werks.

Hin und wieder wird zu auch die  Streich betreffenden Themen zitiert von Zeitgenossen, die nicht unmittelbar etwas mit ihr zu tun hatten. Aber gerade die Ratschläge, die zum Beispiel Gustav Mahler der Sängerin Anna Bahr-Mildenberg gab, hätten auch Rita Streich als Wegweiser dienen können. Deren Charakter scheint ein sehr schillernder gewesen zu sein zwischen Großzügigkeit und Kleinlichkeit schwankend, zwischen Zickigkeit, so gegenüber einigen Begleitern am Klavier, und überbordender Freundlichkeit, zwischen Starallüren und großer Unsicherheit, so wenn sie in einer hübschen Studentin, die zum Umblättern bei einem Liederabend engagiert worden war, eine Rivalin vermutete und deren Entfernung  durchsetzte. Auch als Mutter scheint sie nicht glücklich gewesen zu sein, sondern sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihren Sohn ins Internat abgeschoben zu haben.

Ein umfangreicher kritischer Apparat und ein vielseitiger Anhang von Repertoire-Verzeichnis, Aufnahmeverzeichnis, Literatur- und Quellenverzeichnis, Abbildungsverzeichnis und –nachweis und Personenverzeichnis vervollständigt das Buch.

Rita Streichs Nachlass, der an die Folkwang Uni Essen, wo sie u.a. lehrte, übergeben worden war, gilt nach einem Brand als verschollen. Das Buch von Claudia Behn könnte eine Entschädigung und ein würdiges Denkmal sein.

Ingrid Wanja 18. Dezember 2022


671 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann 2022

ISBN 978 3 8260 7615 2