Zweite Premierenkritik
Nach Düsseldorf erlebte nun auch das Duisburger Opernpublikum Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in der Bearbeitung von Eberhard Kloke als eine Art Kammeroper. Nur rund 30 Instrumentalisten verlieren sich im Orchestergraben, wo sonst gut und gerne 90 Orchestermitglieder den von Wagnerfans so inbrünstig verehrten Klangrausch entfalten. Ein Streichquartett, ergänzt durch ein Englischhorn, wird zum Mitspieler auf der Bühne und tritt in einen ständigen Dialog mit den Musikern im Orchestergraben. Eberhard Kloke äußert sich im instruktiven Programmheft der Duisburger Oper dazu so: „Meine Idee für die Fassung war, eine räumlich abgesetzte Klangebene zu etablieren, die mit der Vorgeschichte verbunden wird und dementsprechend die innere Handlung, das Unausgesprochene erzählt…Das Hauptorchester im Graben erzählt die Handlungsgegenwart, die äußere Handlung.“ Das gelingt vorzüglich. Das dialektische Motivgeflecht der Handlung von Tod und Leben, Tag und Nacht, Schuld und Sühne, Liebe und Entsagung wird auf musikalischer Ebene gespiegelt und verdichtet. Im 3. Akt tritt die Englischhornspielerin (eindrucksvoll: Kirsten Kadereit-Weschta) unmittelbar an Tristan heran und es entspinnt sich ein bewegender Dialog zwischen dem Titelhelden und seinem Gegenspieler, der Tristans schuldbeladene Erinnerungen und damit die Vorgeschichte der Handlung dem Hier und Jetzt gegenüberstellt.
Im 2. Akt beim großen Liebesduett, wo Tristan und Isolde den Liebestod beschließen, der allein Erlösung und im Sinne Schopenhauers Rückkehr ins Ur-Eine bedeutet, wird die Orchesterteilung folgerichtig aufgehoben. Und ein geradezu genialer Schachzug der Regie ist es, wenn Isolde in ihrem Schlussmonolog von weiteren Instrumentalisten umgeben wird, die einen „musikalisch transzendentalen Raum“ (Programmheft, S. 34) schaffen, der selbst den Tod überwindet.
Ansonsten gewinnt Regisseur Dorian Dreiher diesem musikalischen Neuansatz eher beiläufige Akzente ab. Streichquartett und Englischhorn werden an unterschiedlichen Orten auf der Bühne platziert, ins Licht gehoben und wieder ausgelöscht, ohne dass sich dadurch eine tiefere Sinndeutung erschließt. Ähnliches gilt für manche Requisiten des Bühnenbilds (Heike Scheele) im ersten Akt, das auf der unteren Ebene Einblick in die Schiffskabine von Isolde gewährt. Neben dem obligatorischen Kanapee, einem Schrankkoffer mit dem Hochzeitskleid Isoldes und weiteren Accessoires des Aufbruchs sieht man auch rätselhafte Requisiten wie einen Baumstumpf oder ein auf den Kopf gestelltes korinthisches Kapitell. Tristan und Kurwenal erscheinen im klassisch schwarzen Anzug (Kostüme: Ronja Reinhardt), Isolde trägt ein kostbares Gewand, ein Diadem im Haar und hüllt sich bei der Ankunft in Kornwall in einen himmelblauen Mantel, der ihr ein madonnenähnliches Outfit verleiht. Das Kästchen mit dem Liebestrank in Form eines goldenen Reliquienschreins und der große goldene Abendmahlkelch, den Brangäne vom Oberdeck des mit einem Rettungsring angedeuteten Schiffs durch eine Luke zu Tristan und Isolde herablässt, verleiht dem Geschehen ebenfalls einen mythisch-religiösen Anstrich. Eine Treppe verbindet das Oberdeck mit Isoldes Kabine. Es bleibt der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, wenn auch zugestanden werden soll, dass Dreiher die Geschichte von Tristan und Isolde verständlich und anschaulich erzählt, ohne dabei große Subtexte zu bemühen.
Schauplatz des zweiten Aktes ist der in hellem Weiß gehaltene Speisesaal im ersten Geschoss von Markes Domizil. Alle Akteure sitzen zunächst an einem langgestreckten Tisch, bevor Marke zur Jagd aufbricht. Zurückbleiben Isolde und Brangäne, bis Tristan den Schauplatz betritt. Ein weißer Vorhang verhüllt nun zunächst Saal und Tisch, Isolde und Tristan begeben sich nach draußen und nach unten in die Ebene, wo das herrliche Liebesduett leider recht unspektakulär und so gar nicht nachtromantisch (Licht: Volker Weinhart) an der Bühnenrampe erklingt. Dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde nicht unbeobachtet bleibt, macht Regisseur Dorian Dreiher überdeutlich, wenn nun der Blick wieder auf die Tafel freigegeben wird, an der neben anderen auch Melot Platz genommen hat. Starr und unbeweglich beobachten sie die unheilvolle Begegnung der beiden Liebenden. Der Schluss des Aktes bringt dann noch eine überraschende Pointe. Melot fügt Tristan keine Verletzung zu. Die schwärende Wunde, die Tristan zu Tode quälen wird, besteht einfach darin, dass er von Isolde getrennt wird.
Folgerichtig erscheint Tristan im dritten Akt nicht als todkrank daniederliegender Patient in einem Krankenbett, sondern als einsamer und verlorener Besucher einer an Hoppers „Nighthawks“ erinnernde Cocktailbar. In seinem Inneren laufen Sehnsuchtsträume, Erinnerungen an die eigene Geburt und den traumatischen Verlust der Mutter ab, die auf der oberen Spielebene der Bühne als reales Geschehen eingeblendet werden. Dort erscheint nun doch zur Irritation des Betrachters auch Tristan in einem Krankenbett, an dem Kurwenal Wache hält und der zum Arzt mutierte Hirte seinem medizinischen Handwerk nachgeht. Nicht alle Regieeinfälle sind stimmig, wenn auch deutlich wird, dass Dreiher auf diese Weise die Vorgeschichte zu „Tristan und Isolde“ als wirkmächtige und unheilvolle Bürde für Tristan noch einmal abrundend aufgreift, eine Thematik, die schon im Entrée zum ersten Aufzug, nämlich einem Ausschnitt aus Aischylos „Orestie“, angesprochen wird. Erlösung gibt es nicht in der Liebe im Hier und Jetzt, sondern nur durch eine Entindividualisierung über den Tod hinaus. Isolde trifft deshalb auch Tristan nicht mehr im Diesseits als Lebenden an, sondern beschwört im Schlussmonolog das Ziel, „die als übermächtig empfundenen Versagungen durch Selbstvernichtung vergessen zu machen.“ (Sebastian Urmoneit im Programmheft).
Diesen Schlussmonolog singt Alexandra Petersamer in herrlichstem Piano und einer Verinnerlichung, wie man sie in früherer Zeit nur von einer Kirsten Flagstad oder aber der legendären Waltraud Meier vernommen hat. Überhaupt gibt die erst unlängst aus dem Mezzofach ins dramatische Sopranfach gewechselte Sängerin in Duisburg ein impo-nierendes Debüt als Isolde. Sie verfügt gerade in der Tiefe und der Mittellage über eine wunderbar – wie könnte es anders sein – dunkel timbrierte Stimme, die sich auch mühelos zu glasklaren Spitzentönen aufschwingt. Besonders im ersten Akt würde man sich allerdings gerade auch angesichts der kleinen Orchesterbesetzung wünschen, dass beson-ders in der Höhe Druck aus der Stimme genommen würde, damit die Spitzentöne besser in die Gesangslinie eingebettet sind. Insgesamt bleibt aber der Eindruck einer überragenden Interpretation vor allem in den lyrischen Abschnitten des Werks.
Imponierend ist auch die Leistung des schwedischen Tenors Daniel Frank. Er verfügt über eine baritonal gefärbte Stimme, die dennoch in der Höhe eine große Strahlkraft entwickelt. In den ersten beiden Akten hätte gerade auch beim Liebesduett im zweiten Akt allerdings eine stärkere Modulation, hier und da auch ein deutliches Zurücknehmen der Stimme eine noch größere Wirkung entfaltet. Im dritten Akt wächst Daniel Frank dann aber geradezu über sich hinaus. Mit großer Textdeutlichkeit, mit nie ermüdender Stimmkraft, vor allem aber mit einer wunderbarer Differenzierung lässt er den mörderischen Gesangspart der Fieberphantasien Tristans zum eigentlichen Höhepunkt des Abends werden. Eine bravouröse Leistung! Die bot vor allem auch Hans-Peter König als Marke. Der Bayreuth erfahrene Bassist, der im Wagnerfach in seiner langen Karriere an allen großen Opernhäusern der Welt gesungen hat, gibt mit seiner herrlichen, völlig unverbrauchten Stimme ein bewegendes Portrait des schmerzlich getroffenen, durch Tristan vermeintlich hintergangenen Königs. Katarzyno Kunico als Brangäne, Richard Sveda als Kurwenal, Dmitri Vargan als Melot und Johannes Preißinger als Hirte sind mehr als nur würdige Mitstreiter in diesem Terzett dreier großartiger Wagnersänger.
Rheinoper-GMD Axel Kober entlockt dem ausgedünnten Ensemble der Duisburger Philharmoniker einen transparenten und durchsichtigen, an den expressiven Stellen aber auch erstaunlich vollen und raumfüllenden Klang, sodass man fast vergaß, dass hier in Duisburg wie auch in Düsseldorf zuvor – der Pandemie geschuldet – nicht die originale Orchesterversion zu hören war.
Das Publikum im leider nicht ausverkauften Haus feierte Dirigent, Sängerinnen, Sänger und Regieteam mit minutenlangen Ovationen. Ein abgespeckter Tristan? Ja – aber diese Schlankheitskur eröffnet neue und interessante Höroptionen und gibt dem Sängerensemble reiche Möglichkeiten der Entfaltung. In Duisburg wurden sie genutzt.
Weitere Aufführungen am 06.11. und 14.11.2021
Norbert Pabelick, 5.11.2021