An der Deutschen Oper am Rhein standen Chefchoreographin Bridget Breiner und Ballettdirektor Raphaël Coumes-Marquet vor der Frage, wie sie ihre erste Saison effektvoll eröffnen sollten? Ihre Vorgänger wählten da ganz unterschiedliche Wege: Youri Vamos startete 1996 mit zwei Bartok-Balletten, in denen er seine ungarischen Wurzeln betonte und sich zum Handlungsballett bekannte. Martin Schläpfer kombinierte 2009 in seinem ersten Programm eine Choreografie Hans van Manens mit seinem Johann-Strauss-Ballett Marsch Walzer, Polka und einer neu vertanzten Lutoslawski-Sinfonie. Demis Volpi hatte 2020 wiederum mit der Corona-Pandemie zu kämpfen und begann mit drei Abenden unter dem Motto A First Date mit vielen Szenen in kleiner Besetzung.
Die neue Leitung des Balletts am Rhein knüpft jetzt am ehesten an Schläpfer an: Auch jetzt gibt es mit Four Schumann Pieces eine Choreografie von Hans Manen, der dem Haus seit 1971 verbunden ist und mittlerweile sogar Ehrenmitglied ist. Mit Empire Noir folgt eine sportive deutsche Erstaufführung von David Dawson, und mit Biolografie beschließt eine Uraufführung der neuen Chefchoreografin den Abend.
Hans van Manens Four Schumann Pieces aus dem Jahr 1975 waren noch nicht in Düsseldorf zu sehen, gehören aber zu den Klassikern des Choreografen: Im Zentrum steht ein Solist, dessen Pirouetten und Posen von Orazio de Bella mit großer Eleganz getanzt werden. Im Hintergrund ziehen oder wirbeln immer wieder fünf Paare vorbei. Es dauert einige Zeit, bis der Solist mit den Paaren synchron tanzt und schließlich auch in körperlichen Kontakt kommt.
Was da zu bedeuten hat, muss sich jeder Zuschauer selbst interpretieren: Sind die fünf Paare Erinnerungen oder Fantasien des Solisten, oder ist dieser vielleicht sogar ein Choreograph, wie van Manen dies in seinem letzten Ballett Alltag gezeigt hatte? Das Publikum, das in Düsseldorf mit dem Stil und dem Werk des Niederländers bestens vertraut ist, spendet viel Beifall. Van Manen, der trotz seiner 92 Jahre für diese Nachmittagsvorstellung nach Düsseldorf gereist ist, wird frenetisch gefeiert, als er die Bühne betritt!
Furios geht es mit Empire Noir von David Dawson, dessen Giselle Breiner auch von Dresden nach Gelsenkirchen holte, weiter. Zu den perkussiv-treibenden Klängen von Greg Haines entwickelt Dawson einen tänzerischen Wirbelsturm, der 2015 in Amsterdam uraufgeführt worden war. Von den zehn Akteuren ist höchster körperlicher Einsatz gefordert: Die Frauen tanzen fast ununterbrochen auf Spitze, die gesamte Compagnie ist mit einer schnellen und asynchronen Abfolge von Sprüngen und Pirouetten beschäftigt. Wenn sich aus diesem atemberaubenden Durcheinander das Ensemble zu kurzen synchronen Bewegungen zusammenfindet, sind das starke Momente. Das Publikum ist schier aus dem Häuschen und bejubelt die Tänzerinnen und Tänzer.
In ihrer Gelsenkirchener Zeit hatte Bridget Breiner schon bewiesen, dass sie sowohl eine Meisterin des Handlungsballetts als auch des konzertant-abstrakten Tanzes ist. Erinnert sei hier nur an ihren Schwanensee (2013) oder Romeo und Julia (2018) sowie Holy Lightly zu Beethovens 3. Klavierkonzert (2016). In Düsseldorf versucht sie in Biolographie beide Elemente zu vereinen. Die starke musikalische Grundlage ist das 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninov, das Alina Berci großartig im Zusammenspiel mit den von Benjamin Pope geleiteten Düsseldorfer Symphonikern musiziert. Problematisch sind aber die konzeptionellen Vorgaben, die sich Breiner auferlegt: Inspiriert durch Andrea Wulfs Buch „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ will sie den großen Naturforscher auf die Ballettbühne zu bringen.
Lucas Erni tanzt die Hauptfigur als nachdenklichen Beobachter: Die Compagnie ist von Jürgen Franz Kirner mit farbenfrohen und überbordenden Kostümen ausgestattet worden, die sowohl Gefieder als auch Blätterdickicht sein könnten. Hinter diesen Kostümen geht aber die Körperlichkeit der Tänzer, die geschwind umher wirbeln, verloren. Während der historische Alexander von Humboldt kinderlos blieb, erfindet Breiner für den zweiten Satz, der von Maria Hummels Gedicht Stone Bread inspiriert ist, einen sehr emotionalen Pas de deux mit einer Tochter, die von Olgert Collaku sehr zerbrechlich getanzt wird. Der Finalsatz, der „vulkanisch“ sein soll, besticht dann mit seiner ungewöhnlichen und flinken Bewegungssprache.
Insgesamt gelingt Breiner ein ansehliches und ansprechendes Ballett, das beim Publikum sehr gut ankommt. Wahrscheinlich wäre die Choreografie noch besser geworden wäre, wenn sich Breiner für eine choreografische Umsetzung der Musik ohne jede konzeptionelle Vorgabe entschieden hätte.
Rudolf Hermes, 6. November 2024
Signaturen
Choreografien von Hans van Manen, David Dawson und Bridget Breiner
Ballett am Rhein Düsseldorf
Premiere: 19. Oktober 2024
Besuchte Vorstellung: 3. November 2024
Musikalische Leitung: Benjamin Pope
Klavier: Alina Berci
Düsseldorfer Symphoniker