Innsbruck: „La clemenza di Tito“

(Mozart et al.)

Intelligente, stimmige mehrschichtige Deutung: weg vom hohlen Jubel

Mozarts Clemenza di Tito als „alte Musik“ bei Innsbrucker Festwochen! Was ist an Mozarts später Oper „alt“? Sicher sind es Stoff und Stil der wohl letzten noch im großen Repertoire auffindbaren metastasianischen Oper, komponiert 1791, neun Jahre nach Metastasios Tod; sie war im Zeitalter des Absolutismus (und der Aufklärung!?) ein beliebter Auftragsstoff, mit einer schon fast auf 40 angeschwollen Zahl von Vertonungen. Auch Gluck hat vor seinen Reformopern eine Clemenza komponiert, die hier und da noch hervorgezogen wird; aber nur Mozarts Werk ist seit seiner Uraufführung als Jubeloper zur Krönung von Kaiser Leopold zum böhmischen König im September 1791 in Prag im Repertoire geblieben. 1794 wurde sie daselbst wieder nachgespielt, ehe Mozarts Witwe Constanze sich um konzertante Aufführungen in Wien kümmerte und zur Steigerung des Interesses an dem Werk gar Beethoven dazu bewegen konnte, in der Pause Mozarts d-moll-Klavierkonzert zu spielen (Info aus dem Programmheft). 1801 brachte Schikaneder in seinem Theater die Oper auch szenisch wieder heraus. Bei einer weiteren Produktion 1804 nahm man es mit der Partitur nicht mehr so ernst, sondern versah sie mit einigen Modernisierungen. Die Inszenierungen hingegen blieben „werkgetreu“. Heute ist das genau umgekehrt: Musikologen wachen über die Unverletzlichkeit von Libretto und Partitur, würden am liebsten gar dendrochronologisch die Holz-Instrumente auf ihre Echtheit prüfen, während die Regisseure die Werke gnadenlos dekonstruieren… „Alt“, aber bis in die zeitgenössische Oper andauernd, ist auch das Prinzip dieser seria, dass zwar vor historischem Hintergrund gespielt wird, aber weit entfernt von jeder geschichtsschreiberischen Erkenntnis. Es kommt auf die Figuren und ihre Interaktion an; unbeachtlich bleibt, ob Titus historisch wirklich ein zwischen Staatsraison und Milde hin- und hergerissener Fürst war oder ob nicht sein wahrer Charakter eher durch Ausrottung fast der halben jüdischen Bevölkerung Palästinas gekennzeichnet war. Das relativiert dessen „Milde“: Se non è vero, è ben trovato…

Carlo Allemano auf dem Stuhl (Tito Vespasiano), Ann-Beth Solvang (Annio), Marcell Bakonyi (Publio), Kate Aldrich (Sesto), Chor der Academia Montis Regalis und Statisterie

In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Neuproduktion der Oper zu den Wochen Alter Musik, bei der die 1804 an der Wiener Hofoper vorgestellte Version wieder zur Aufführung gebracht wird: eine brillante Idee, die musikalisch für Abwechslung sorgt. Dadurch ist die Musik nun allerdings noch „weniger alt“, denn in die Partitur sind fünf Nummern damals zeitgenössischer Komponisten eingesetzt, von denen besonders die Arie des Tito mit Chor „non tradirmi in quest’instante“ aus dem zweiten Akt ohrenfällig wird (komponiert von Giovanni Simone Mayr – später Bergamo!) und das musikalische Spektrum des Werks von Händel gefühlt bis zu Donizetti erweitert. Auch weitere musikalisch neue Nummern, u.a. von Haydns Patenkind Joseph Weigl (1766-1846) verweisen auf den neuen klassizistischen Belcanto-Stil. Die textliche Adaptation hatte Caterino Mazzolà (1745 – 1806) vorgenommen. In dieser Fassung von 1804 ist die Clemenza Jahrzehnte gespielt worden. Als historischen Zufall kann man es bezeichnen, dass just 1804 Napoleons Selbstkrönung zum neuen Augustus die frz. Revolution beendete und letztlich den Weg zum Weißen Schrecken freimachte: la clemenza konnte also wieder heuchlerische Huldigungsoper werden. Als solche verlor sie natürlich später im 19. Jhdt an Beliebtheit; die Opernführer beschrieben zwar ihre musikalische Größe, versahen sie aber mit dem Urteil „Kälte“. Bei späteren Wiederbelebungen wurde sie wieder in der Originalfassung gegeben und hat eigentlich erst seit dem Mozart-Jahr 2006 allein wegen ihrer musikalischen Ausnahmestellung wieder deutlich mehr Beachtung gefunden.

Ann-Beth Solvang (Annio) und Dana Marbach (Servilia)

In der Inszenierung von Christoph von Bernuth wird nicht dekonstruiert, sondern textnah der Bick aufs Werk geweitet. So ist sein Blick auf die Handlung: Annio liebt Servilia und ist ihr versprochen; Titus liebt Berenice (die er aus Gründen der Staatsraison verstoßen muss); nun liebt er zuvörderst und „zärtlich“ seinen pubertierenden Günstling und Lustknaben Sesto. Den kann er aber (anno 91 post Chr. natum, Zeit der Handlung) anders als heute nicht heiraten, so lässt er aus Gründen der Staatsraison ebenso interesse- wie vor allem „lust“los erst Servilia und später Vitellia einen Antrag machen. Vitellia strebt nach der Macht; außer dieser und sich selber liebt sie überhaupt nichts und niemanden; sie verführt aber Sesto, der eigentlich wiederum seinen Mentor Titus liebt, und macht ihn sich hörig und gefügig bis zum Mord- und Brandanschlag auf Titus. Dann sind da noch Annio, eine schwache, angepasste Figur, und vor allem Publio, der selbstbewusste Büttel der Caesaren. Da diese ja alle eineinhalb Jahre ermordet werden, liegt in Publio die Kontinuität der Staatsmacht: er führt den Kaiser, widerspricht ihm gar, auch wenn er ihm schließlich gehorcht. Die Geschichte, bei der zuletzt der junge Sesto zerbricht, zwischen Tito und Vitellia hin- hergerissen und von beiden missbraucht, und Vitellia sich voller Reue aus dem Geschehen verabschiedet, endet mit einer eitlen und hohlen Feier für den Imperator, der vom launisch schwankenden und opportunistischen Volk Fähnchen schwenkend bejubelt wird. Es verbleiben beim lieto fine noch Fragen, deren Beantwortung der Regisseur dem Publikum überlässt. ber einen wirklichen Imperator, ob milde oder streng, bekommt man nicht gezeigt.

Kate Aldrich (Sesto) und Nina Bernsteiner (Vitellia)

Es ist verständlich, dass Christoph von Bernuth durch die Ausstattung von Oliver Helf eine Verzeitung des Geschehens in eine nicht genau zu definierende Moderne vornehmen lässt. Zwischen den gedeckten Tönen der Bühne, der schwarzen Kleidung des Chors und der Statisten setzen die kecken Pastelltöne der Tüllkleider der beiden wahren Frauen die einzigen Farbtupfer. Auf der Drehbühne ist zuerst ein viereckiger Raum mit seitlichen und hinteren Türen zu sehen, der nur mit seinem klassisch-repetitiven Tapetenmuster an eine klassische Zeit gemahnt. Ein riesiger moderner Stuhl steht darinnen, von dessen Sitzfläche sich zu Beginn der inszenierten Ouvertüre Sesto wie von einem „Lotterbett“ fluchtartig von Tito entfernt. Dieser wirft sich schnell seinen Hermelinmantel um; der dort ebenfalls liegende Nerz wird später den beiden „echten“ weiblichen Figuren als Statussymbol angeboten – aber nur Vitellia will ihn. Der Raum stellt die Gemächer des Palasts dar, der Stuhl Privatgelass, Herrschaftsraum, Thron und Abstellfläche für Tito, wenn der gerade von der Handlung nicht benötigt, aber seine Allanwesenheit dennoch verdeutlicht wird. Die Bühne dreht sich zum Ende des ersten Akts; die hinteren Türen des Gemachs werden zu Eingängen des Kapitols. Sesto hat ganze Arbeit geleistet: alles steht in Flammen – und dem Brandmeister des Theaters wahrscheinlich das Haar zu Berge. — Der zweite Akt zeigt den ausgebrannten Palast: Tito, immer noch barfuß in weißem Schlafanzug mit übergeworfenem Hermelin und weißer Papierkrone, scheint das nicht besonders zu stören: Auf dem heruntergebrochenen Stuhl (Zerstörung und Chaos sind ihm zur Normalität geworden) sinniert er über Strafe oder Gnade für seinen „geliebten Sohn“. Als er merkt, dass dieser sich auch Vitellia zugewandt hat, mischt sich deutlich Eifersucht als Ersatz für die Staatsraison in diese Abwägung – mit der gleichen Konsequenz: Todesstrafe! Zum glücklichen Ende der Geschichte dreht sich die Bühne wieder: geschickte Helfer haben inzwischen ohne jedes Rumpeln eine ganze Tribüne hereingeschoben: das ist die Arena, in welcher Sesto den Raubtieren zum Fraß hingeworfen werden soll, wo das Volk Platz genommen hat und das unterhaltsame Spektakel erwartet. Aber es kommt natürlich anders: Vitellia bekennt ihre Schuld; lieto fine wie oben schon beschrieben. — Den homoerotischen Kontext des Librettos liest der Regisseur ganz zwanglos aus dem Libretto, macht daraus zwar ein wichtiges Thema der Inszenierung, trägt aber nicht zu dick auf und belässt Etliches bei Andeutungen. Sesto als Strichjunge oder als Missbrauchsopfer, das lässt er offen. Die Clemenza-Geschichte wird mit gekonnter Personenführung und -zeichnung in zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit spannend erzählt, wobei besonders die mit derder Musik abgestimmten Bewegungen gefallen. So werden Mozartsche Figuren mit charakteristischer Prägung und tiefer Zeichnung auf die Bühne gebracht.

Kate Aldrich (Sesto), Dana Marbach (Servilia), Ann-Beth Solvang (Annio), Nina Bernsteiner (Vitellia), Marcel Bakonyi (Publio), Chor der Academia Montis Regalis und Statisterie

Durch die Streichung des ersten Rezitativs wurde der Zuschauer gleich mitten in die Handlung geworfen. Die musikalische Leitung oblag Alessandro De Marchi, der auch der künstlerische Leiter der Festwochen ist. Im Graben saß das Orchester der Academia Montis Regalis, ein 1994 in der piemontesischen Kleinstadt Mondovi gegründetes Spezialensemble, das auf Originalinstrumenten spielte. Gab es ganz zu Anfang in der Ouvertüre, wohl der Anspannung und einem sehr flotten Anfangstempo geschuldet, noch einige wenige Unschärfen, hätte danach selbst ein Sixtus Beckmesser seine „Sieben“ nicht vollgekriegt. Sogar die schwer zu beherrschenden Naturtrompeten (auch als Bühnenmusik) und die anderswo vielfach patzenden Naturhörner funktionierten perfekt. Prägnanz und Ausdruckskraft erzeugte De Marchi nicht mit einer romantisierenden Interpretation, sondern vielmehr mit einer dramatischen Ausschöpfung der Dynamik. Dem Usus der damaligen Jahrhundertwende folgend, wurden die secco-Rezitative nicht mehr vom Hammerklavier begleitet, sondern von Violone und Violoncello, wobei der Kontrabass die Grundtöne streicht und das Cello die Harmonie darüber setzt. Mozart folgt in seiner Partitur auch dem Barockbrauch, hervorgehobene Arien von einem Soloinstrument begleiten zu lassen, in diesem Falle von Blockflöten und zweimal vom Lieblingsinstrument seiner späten Tage, der Klarinette, der Vincenzo Casale mit seinem historischen Instrument über den großen Tonumfang virtuos berückende Klänge entlockte. Der gut 20-köpfige Chor der Academia war präzise einstudiert von Claudio Cavazzi und wurde für die beiden Volksszenen noch von einem Vielfachen an ebenso schwarz gekleideten Statisten verstärkt.

Carlo Allemano (Tito Vespasiano) und Marcell Bakonyi (Publio)

Auch solistisch brannte an diesem Abend nichts an. Mit Carlo Allemano als Tito Vespasiano war zwar kein typischer heller und schlanker Mozart-Tenor aufgeboten, sondern eine eher baritonal timbrierte Stimme mit cremiger, kräftiger Mittellage, in der Höhe nicht zu stark gefordert, aber durchaus mit schönen weich intonierten Spitzentönen, virtuoser Koloraturtechnik und überzeugender Leichtigkeit. Schauspielerisch verstand Allemano, die vielen Facetten dieser Figur zwischen Liebe, Herrschsucht und Unsicherheit gut zu verkörpern, aber bei der Gestik des triumphators könnte er selbst ein italienischer Tenor noch nachlegen. Kate Aldrich brachte den zerbrechlichen und zerrissenen Sesto schon figürlich ideal und begeisterte mit ihrem geschmeidigen Mezzo mit warmer Farbgebung von fordernden Tiefen bis in die sicher geführten Höhen. Etwas dunkler, voller und viriler kontrastierte dazu der zweite Mezzo von Ann-Beth Solvang als Annio, was vor allem bei den beiden Duetten gefiel, nicht gerade häufig in der Opernliteratur. Etwas schlanker hätte man sich ihre Rezitative gewünscht. Mit Nina Bernsteiner als Vitellia war eine Sopranistin besetzt, die keine Wünsche offen ließ: Mit ihrer Intonationssicherheit bei den Mozartschen Tonsprüngen, ihrer innig lyrischen Interpretation und den jugendlich dramatischen Ausbrüchen reizte sie die Rolle souverän aus. Überlegen auch ihre Bühnenerscheinung und usurpatorische Aufmachung. Dana Marbach wusste als Servilia mit ihrem klaren, silbrigen Sopran zu gefallen Marcell Bakonyi führte mit kräftig markantem, verlässlichem Bassbariton Darsteller und Publikum durch die äußere Handlung.

Aus dem gediegenen Festspielpublikum war an diesem Abend kein Flüstern und kein Husten zu vernehmen. Damit ist eigentlich schon alles gesagt, schenkt man nur dem Publikum Glauben. Obwohl die Inszenierung durchaus heikle Passagen zeigte, gab es für die Regie keine einzige Missfallenskundgebung, sondern anhaltenden Beifall, mit dem natürlich vor allem die Solisten fast eine Viertelstunde lang gefeiert wurden.

Manfred Langer, 09.08.2013

Fotos: © Rupert Larl, Innsbrucker Festwochen

Video:

Neben einem weit gefächerten Programm mit Konzert, Lied und Kleinkunst kommen als weitere Opernproduktionen der Festwochen der Alten Musik 2013 noch der Doppelabend Venus and Adonis von John Blow / Dido and Aeneas von Henry Purcell als Studioproduktion im Innenhof der Theologischen Fakultät heraus sowie L’Euridice von Giulio Caccini (1551 – 1618), ein Stück des Musiktheaters, das noch vor Monteverdis "Erfindung" der Oper mit dem gleichen Sujet bereits 1602 uraufgeführt wurde – also wirklich Alte Musik! (im Landestheater)

Programm: http://www.altemusik.at/