Gelsenkirchen: „Hoffmanns Erzählungen“

Premiere 10.6.2019

Zauberkasten Opernbühne

Umjubelter Saisonabschluß am Musiktheater im Revier

Selten starte ich eine Besprechung mit dem Lob einer Kostümbildnerin, aber was uns Jula Reindell hier in der wunderbaren Inszenierung von Michiel Dijkema präsentiert, ist mit märchenhafter Fantasie gestaltet. So prachtvoll wie originell und so bunt wie ein Bonbonnière herrlich verpackter Edelpralinen. Historisch ist das ganze schwer einzuordnen – wir erleben ja in einer märchenhaften Fantasiewelt und gottseidank nicht im Heute. Die Burschenschaftler sehen alle aus wie jüngere Klone von Abraham Lincoln. Ein kühner Regiegag, denn so wird schwerlich erkennbar, daß im folgenden Olympia-Akt die Herrschaften in Bewegungsstarre – wie eingefroren – nur noch als Wachsfiguren existieren.

Michiel Dijkema, der auch für die grandiose Bühne verantwortlich zeichnet, bringt Oper als den Zuschauer erfreuendes schönes Musiktheater. Sein Konzept ist das Theater als Zauberkasten mit diversen klassischen Magiereffekten, wie Rauch und Nebel (zum Verschwinden von Personen) und aus den Fingerspitzen blitzende Feuereffekte (Harry Potter lässt grüßen); sogar die schwebende Jungfrau wird im Antonia-Akt bemüht.

Er nutzt die kleine Bühne des MiR, die ja für große Ensemble-Bebilderung nun überhaupt nicht geeignet ist, bravourös und sinnvoll. Im großen Finale schließlich bleiben Hoffmann und seine Muse allein zurück, der große – mal wieder perfekt von Alexander Eberle einstudierte – Chor singt aus dem Dunkel der Seiten des Parketts. (Unser Tipp: Unbedingt Karten im Parkett kaufen)

Nun kann man bei einem so zusammengebröselten Werk – Offenbach hat die Uraufführung und Komplettorchestrierung nie erlebt – natürlich Erbsen zählen und zusätzlich bzw. überflüssiger Weise jede noch immer wieder neu entdeckte Note ergänzen – wie just in Wuppertal, wo das Werk auf fast vier Stunden zur extremen Langeweile des Publikums und des Rezensent extrem aufgeblasen wurde, aber…

Aufgabe der Regie ist doch nicht das historisch museale Aufarbeiten von Stücken, jahrelange Archivarbeit oder musikhistorische Wissenschaftlerei, sondern die spannende Unterhaltung des Publikums im Jetzt. Und dies gelingt am Musiktheater im Revier diesmal blendend.

Durch Aufteilung des Antonia-Aktes schafft es, der Regisseur endlich endlich endlich (!) einmal die temporäre Unausgewogenheit der Aufführungspraxis (dem über zweistündigen ersten Teil folgen meist nur noch 45 Restminuten) formal etwas auszugleichen. Bravo! Das ist zuschauer- und rückenfreundlich vor allem fürs ältere Publikum. Außerdem entsteht so etwas wie ein "Cliffhanger", mit dem man das Publikum – wie bei einer aufregenden TV-Serie – mit großer Spannung und Erwartung der Fortsetzung in die Pause entlässt.

Schaden tut so etwas dem so beliebten Offenbachschen Meisterwerk keinesfalls – im Gegenteil. Nur die Puristen, Musiklehrer, Historiker und Erbsenzähler werden sich beklagen. Und das bei einem Werk, wo des öfteren (je nach Fassung) ohne Protest sogar die Akte vertauscht werden.

Folgerichtig hat das Ganze auch einen im Inszenierungskonzept liegenden Sinn, doch diesen Überraschungscoup werde ich hier nicht verraten. Die Anspielungen an Filmbilder klassischer wie auch moderner Art (der Regisseur mag anscheinend Filme von Friedrich Wilhelm Murnau, Quentin Tarantino oder Tim Burton…) sind verspielt eingebaut. Die gesamte Produktion ist ein Traum geglückter Regiekunst, die sicherlich allen Beteiligten ebenso Spaß machte, wie dem Publikum – selten hörte ich in den letzten Jahren soviel unisono Beifall und Bravi für ein Produktionsteam.

Natürlich ist das alles nichts ohne die gelunge musikalische Seite, die sich hier beglückend mit einem wahren Sterne-Abend einbringt. Allen voran eine Entdeckung – der schwedische Tenor Joachim Bäckström, den man erst wenige Wochen vor der Premiere (die vorgesehene Besetzung musste absagen) glücklicherweise entdeckte. Der einstige Berufspilot hat zwar in den skandinavischen Ländern schon einen Namen, war aber in Mittel-Europa relativ unbekannt – das wird sich nun schlagartig ändern, hofft zumindest der Rezensent. Die Art und Weise, wie er diese Höllenpartie des Hoffmann bewältigt, überzeugt ebenso wie seine Bühnenpräsenz.

Es gibt auf dieser Opern-Welt zwei Rollen, deren Besetzung wirklich teuflich schwer ist und deren Top-Sänger man fast mit einer Hand fast abzählen kann; die zweite Partie ist die des "Tannhäuser". Wer hier reüssieren will, ohne seine Stimme zu ruinieren, muß ganz großes Potential haben und das hat Joachim Bäckström. Wir werden noch viel von ihm hören, hoffentlich…

Daß man mit den hervorragenden Sängerinnen Dongmin Lee (Olympia) und Solen Mainguené (Antonia) nur weitere zwei Gäste brauchte, spricht für die vorbildliche Personalpolitik des MiR, wo man die Ensemble-Pflege immer noch liebevoll betreibt.

Auch das Hauspersonal überzeugte: mit Almuth Herbst (nicht nur darstellerisch auch gesanglich ein Träumchen in der Rolle der Muse), dem herrlich dämonischen Urban Malmberg in den vier Bösewichter-Rollen, Petra Schmidt als Giulietta und dem singenden Bewegungswunder Edward Lee (Andre, Cocheneille, Frantz. Pitichinaccio) – der in jeder Filmproduktion wahrscheinlich auch eine Rolle als Stuntman bekäme. Was für tolle Solisten! Uneingeschränktes Pauschallob auch für die Comprimarii.

Die Neue Philharmonie Westfalen, die ich vor fünf Wochen noch als geradezu hollywood-reifes phantastisches Filmmusikorchester in Essen erleben durfte (der OPERNFREUND berichtete) zeigte unter Valtteri Rauhalammi, daß sie auch Offenbach gut beherrscht.

Ein krönender Saisonabschluß – ein perfekter Opernabend, dank eines Regisseurs mit Herz fürs Musiktheater, der sein Publikum weder ärgern noch veralbern will. Am MiR liebt man noch Oper und auch sein Publikum. Ein Beifalls-Orkan feierte diese finale Produktion zu Recht.

P.S.

Ein zusätzlicher Opernfreund-Stern geht an die künstlerischen Werkstätten und die Maske, denn was man hier an quasi Wachsfiguren (immerhin 18 Stück) in einer natürlichen abrupten Bewegungsstarre eingefroren hatte und auch noch auf der Bühne standsicher montierte, ist jedes Madame Tussaud Kabinetts würdig.

Peter Bilsing 11.6.2017

Dank für die aussagekräftige Bilder an Pedro Malinowski (c)