Gelsenkirchen: „Les Contes D’Hoffmann“

Premiere am 10. Juni 2017

Räumliche Enge

Die Werkeinführung im Programmheft (ohne Autorenangabe, doch steht die Dramaturgin Anna Grundmeier zu vermuten) enthält alle wesentlichen Fakten zum Schicksal von Offenbachs Oper, welche in einer Fassung „von letzter Hand“ nicht vorliegt. Michael Keye und Jean-Christophe Keck habe sich ihr so weit als möglich angenähert. Am Musiktheater im Revier spielt man das Werk nach dieser Fassung. Das „nach“ bedeutet Kürzungen (beispielsweise nur eine Strophe des Frantz-Couplets) oder auch Auslassungen (was einige ungewohnte musikalische Übergänge bedingt); dafür belässt man Dappertutto die „Spiegel“- bzw. „Diamanten“-Arie, auch gibt es das „Sextett“ zu hören, welches gar nicht von Offenbach stammt. Es ist natürlich davon auszugehen, dass der finnische Dirigent VALTTERI RAUHALAMMI und der niederländische Regisseur (und Ausstatter) MICHIEL DIJKEMA gewichtige Überlegungen zur Gelsenkirchener Fassung angestellt haben. Überdies muss man bei der Beurteilung nicht gleich päpstlicher sein als der Papst. Offenbach war ja (wie vor ihm noch ausufernder Rossini) Eigenzitaten gegenüber keineswegs abgeneigt: prominentestes Beispiel ist die Barcarole aus den erfolglosen „Rheinnixen“.

Die musikalische Überzeugungskraft einer Aufführung (bei Rauhalammi sind melodische und klangfarbliche Intensität sowie rhythmische Verve gleichermaßen überzeugend) wird immer auch von der szenischen Gestaltung abhängen. Über die katastrophalen Gegebenheiten bei der Uraufführung 1881 (u.a. kurzfristige Streichung des Giulietta-Aktes) muss nicht nochmal berichtet sein. Wirklich künstlerische Einflüsse von Bühnenproduktionen auf die Werkgestalt sind interessanter, etwa die von Monte Carlo 1904, wo die oben erwähnte „Spiegel“-Arie und das Sextett erstmals erklangen. Besonders Berlin sollte mit bemerkenswerten Aufführungen hervortreten: Kroll-Oper 1929, Großes Schauspielhaus 1931 (Regie: Max Reinhardt) und dann noch einmal Komische Oper 1958 (Regie: Walter Felsenstein). Annäherungen an das Original nach dem jeweiligen Wissensstand und Freizügigkeit der Inszenierung führten zu unterschiedlichen Lösungen.

Die Aufführung am Musiktheater im Revier ist hinsichtlich des Optischen freilich keine (in sich stimmige) „Lösung“. Regisseur Dijkema hat eine nüchterne Szenerie entworfen: wandumstandene Bühne, auf einem mittigen Podest Gestühl und zusammengerückte Tische, welche über weiteste Strecken die Spielfläche bilden. Man könnte sagen: bei einem Tisch wär’s noch etwas enger geworden. Das Bild bleibt alle Akte hindurch gleich, bei Giulietta gibt es allerdings zusätzliche dekorative Venedig-Andeutungen, was der Konzeption eigentlich zuwider läuft.

Die Inszenierung scheint darauf aus, das Geschehen als „Contes“ („Erzählungen“) deutlich werden zu lassen. Die Studenten des 1. Aktes werden zu Puppen eingefroren, verfolgen in starrer Haltung die Vorgänge und nehmen den eigentlichen Akteuren viel Platz weg. Holzhammer-Methode für begriffsstutzige Zuschauer offenbar. Andeutungen hätten genügt und mehr Effekt gemacht. Im Antonia-Bild werden die Puppen wieder durch lebendige Choristen ersetzt, welche der Tragödie applaudieren. Wozu, fragt man sich. Erklärung für diese absurde Idee mag die Entscheidung sein, vor dem „Terzett“ das Publikum in die Pause zu entlassen. Die Puppen müssen ja ausgetauscht werden. O Dio mio.

Bei räumlicher Enge der Bühne müsste eine Regie besonders detailakribisch arbeiten. Aber alle Personen, auch solche, die im Moment überflüssig sind, kleben gewissermaßen aufeinander wie Bienen in einer Honigwabe, lassen psychologisierende Auflockerungen kaum zu. Olympia/Hoffmann – endlich allein? Nichts da, der Chor quetscht sich an das Paar heran. Antonia/Hoffmann, lange nicht gesehen, was die Regie aber ignoriert. Antonia ist weniger Sängerin als Cellistin (SOLEN MAINGUENÉ spielt höchstselbst) , was immerhin einen Bezug zum Cellisten Offenbach herstellt (das Bühnenbild schmückt sich jetzt mit dem Trümmerteil eines Cellos). Kein Liebesduett nach so langer Zeit, aber ein Duo von Cello und Kontrabass, welchen Hoffmann bedient. Eros in höheren Sphären offenbar.

Und dann ist da noch die Muse, die sich hinter viel zischendem Dampf in Niklausse verwandelt (und später wieder zurück). Von der poetischen Dringlichkeit dieser Doppelrolle vermittelt die Inszenierung so gut wie nichts. ALMUTH HERBST muss, ihren mezzohellen Gesang fast schon karikierend, Hoffmanns Schutzgefährten als eine Art Waldschrat geben (Kostüm: JULIA REINDELL – sonst freilich einfallsreich und historisch orientiert). Dass sich Niklausse in Venedig dem schwülen Lotterleben widerstandslos hingibt, war schon immer ein Regieproblem. In Gelsenkirchen wird es nicht gelöst, vielmehr unterstrichen. Natürlich erfährt auch die marginale Rolle der Stella (bei der Besetzung bleibt der Name unerwähnt) keine Aufwertung. Die Sängerin der Olympia piepst gerade mal ein paar beiläufige Töne. All das Unzulängliche – für das Gelsenkirchener Premierenpublikum ward’s offenbar doch Ereignis (vehementer Beifall).

Applaus verdient haben indes der verstärkte Chor des Hauses (Einstudierung: ALEXANDER EBERLE) sowie die Sängersolisten. DONGMIN LEE koloraturt die Olympia nahezu perfekt, Solen Mainguené gibt (auch darstellerisch) eine leicht hysterische Antonia (durchaus rollengerecht), der weichere Vokallinien aber nichts schaden würden, Mit viel Sex setzt sich PETRA SCHMIDT als Giulietta in Szene, ohne das ihr aufoktroyierte Klischeebild einer Nutte ganz hinweg spielen zu können. EDWARD LEE ist superb in den Dienerpartien, der persönlichkeitsstarke URBAN MALMBERG strengt sich bei den „Bösewichtern“ schon mal etwas an. Pauschales Lob für die Comprimarii: JOACHIM G. MAAß (Lutter), MARVIN ZOBEL (Nathanael), TOBIAS GLAGAU (Wilhelm), JACOUB EISA (Hermann), DONG-WON SEO (Crespel), NORIKO OGAWA-YATAKE (Stimme der Mutter – ihr Körperdouble geistert sinnlos durch die Zuschauerreihen) und MICHAEL DAHMEN (Schlémil). WILLIAM SAETRE als Spalanzani: sängerisch geht das nicht mehr an.

Tenoral strahlend, szenisch präsent und blendend aussehend: JOACHIM BÄCKSTRÖM als Hoffmann. Der 43jährige Schwede gab sein Debüt erst 2010, war zuvor gemäß Nachfrage ein Pilot. Spätkarriere also, die sich bislang hauptsächlich in Skandinavien abspielte. Gelsenkirchen ist Bäckströms Einstand in Deutschland. Man sollte sich für den Sänger hierzulande interessieren.

Christoph Zimmermann 13-6-2017

Bilder siehe erste Besprechung unten!